Nun haben wir sie also, diese Regierung, die voller Inbrunst, aber doch etwas unspektakulär bestrebt ist, uns in eine merkwürdig biedere Fantasiewelt zu versetzen, in der man auf neue Probleme lediglich althergebrachte Antworten kennt. Dass sich diese noch nie wirklich bewährt haben, wird in angedeutetem Trotz und mit weltmännischer Miene konsequent ignoriert. Das passt und macht auf eine leicht umnebelte Art und Weise glücklich, schließlich lieben und leben wir Österreicherinnen und Österreicher unsere Traditionen ja. Denn um die rot-weiß-roten Denkstrukturen verstehen zu können, muss einem bewusst werden, dass hier alles „immer schon so war“. Auch wenn dieses „Immer-Schon“ lediglich die eigene und die Lebensspanne der Eltern umfasst, verleiht sie dem, der sich darauf beruft, den Nimbus eines zwar konservativen, aber verlässlichen Menschen, der sich einfach auf die Lebenserfahrung vergangener Generationen verlässt. Und das höchstwahrscheinlich zu Recht, oder? Angeblich war ja früher alles besser. Oder zumindest das meiste. Schlechter wird es ja wohl nicht gewesen sein, sonst hieße es ja nicht die „gute, alte Zeit“.
Dass sich allerdings kaum jemand die Mühe macht, den Lebensstil der Altvorderen genauer zu beleuchten, ist ein wirkliches Versäumnis. Das ist schade, denn so könnte man manche überraschende Entdeckung machen, die das „Immer-Schon“ deutlich relativieren würde. Ein kleines Beispiel gefällig?
Unsere heiß geliebten Trachten werden beispielsweise momentan wieder tragbarer und tragbarer. Dabei macht es keinen Unterschied, ob man eine schwer alkoholbeeinträchtigte Minderjährige auf einem der epidemiegleich aus dem Boden schießenden Oktoberfeste oder ein als hip gelten wollender Geschäftsmann auf einer Innenstadtvernissage ist. Diese Kleidung kann Partydresscode oder politisches Statement sein, sie passt mit kleinen Variationen zu beinahe jedem gesellschaftlichen Anlass.
Tradition ist Trumpf.
Wirklich alt allerdings ist das Dirndlkleid - "Dirndl" bezeichnet ja genaugenommen die Trägerin - zum Beispiel mitnichten. Zwar gab es seit Jahrhunderten ländliche Alltagskleidung, die Elemente dieses Kleides beinhaltete (zum Beispiel den miederartigen Oberkörperteil oder die Schürze), mit der heutigen Vorstellung vom typischen Dirndl hatten diese allerdings wenig gemein. Sie waren meist hochgeschlossen, langärmelig, aus schweren Wollstoffen gefertigt. Arbeitskleidung eben, die vor allem Schutz bieten sollte.
Die Initialzündung für die Entwicklung des Dirndls in heutigem Sinn gab erst die Etablierung der Eisenbahn als erschwingliches Massentransportmittel. Und das geschah in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Dadurch entdeckte die gehobene städtische Mittelschicht - in geringerem Maße der Adel - ländliche Regionen im Hinblick auf Wochenendausflüge und sogenannte "Sommerfrischen" für sich. Dafür wollte man sich anpassen. Nicht um jeden Preis, aber zwischen den Dörflerinnen und Dörflern auffallen wollte man auch nicht unbedingt. So steckten bald dürre wie feiste, auf alle Fälle aber sehr städtisch-bleiche Männeroberschenkel in ländlich inspirierten Lederhosen, die Körper der dazugehörigen weiblichen Begleitung wurden in Kleider gehüllt, die stilistisch an die Alltagskleidung der Dirndln (also der Landmädchen, der Mägde) angelehnt waren. Allerdings waren sie vor allem durch leichtere, weichere Stoffe deutlich bequemer zu tragen.
Einige Jahrzehnte später fahndeten die Machthaber des Dritten Reiches verzweifelt nach einer nationalen Identität der deutschsprachigen Gebiete. Immerhin konnte ihr "deutsches Volk" ja nur dann geschlossen Überlegenheit demonstrieren, wenn es durch althergebrachte Gemeinsamkeiten zu einem solchen einheitlichen Volkskörper zusammengeschweißt wurde. Dumm nur, dass ein solch gemeinsames, überregionales deutsches Brauchtum schlicht und ergreifend nie existiert hatte, wie man auch damals schon unschwer aus der einschlägigen Literatur erkennen konnte.
Somit mussten die "guten, alten Traditionen" konstruiert werden - auch im Bereich der Mode.
Da die Nazis in beinahe allem, was sie anpackten, bewundernswert organisiert und professionell vorgingen, wurden auch in diesem Bereich keine halben Sachen gemacht: Es wurde die "Mittelstelle Deutsche Tracht" eingerichtet, deren Leiterin Gertrud Pesendorfer den klingenden Titel "Reichsbeauftragte für Trachtenarbeit"trug. Die mittlerweile etwas verstaubt wirkenden Urlaubertrachten aus der k.u.k.-Zeit wurden dem Zeitgeschmack entsprechend so verändert, dass die Frauen mehr Haut zeigten: Arme und Hals wurden durch knappere Blusen zum Blickfang, die Röcke wurden kürzer. Immerhin war es ohne ein wenig Sexappeal ja doch nicht so einfach, sich das Mutterkreuz zu verdienen.
Die Tracht - so konstruiert und nur scheinbar alt sie auch sein mag - erlebt also eine Renaissance. Schön.
Aber wie sieht es mit den anderen identitätsstiftenden Traditionen aus, mit all dem, was uns bereits jahrhundertelang an die autochthonen Herzen gewachsen ist?
Der Christbaum ist doch ein uraltes Symbol unserer tiefen Gläubigkeit, oder?
Na ja, der erste in Österreich dokumentierte Weihnachtsbaum erhellte erst 1814 die festlich gestimmten Gemüter.
Für uns gelernte Österreicher ist der Heurigenbesuch Pflicht, sicher schon seit vielen Jahrhunderten!
Leider, Heurigenlokale gibt es kaum länger als den oben erwähnten Christbaum.
Das Wiener Schnitzel, die Sonntagsspeise jeder guten Österreicherin und jedes ebensolchen Österreichers muss aber doch eine lange Tradition aufweisen, quasi zum alten Adel der Kalorienbomben zählen!
Mitnichten. Zwar gibt es einige Legenden um die Entstehung dieser Speise, wirklich nachgewiesen ist sie allerdings erst seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts.
Genau so könnte es noch lange, lange weitergehen.
Alles, was also vordergründig unsere österreichische Seele auszumachen scheint, ist entweder eine verhältnismäßig moderne Erfindung, ein Missverständnis oder etwas aus anderen Kulturen (höflich formuliert) Übernommenes.
Und doch gibt es diese österreichische Seele. Allerdings ist sie nicht an Äußerlichkeiten festzumachen, nicht an Festtagen, nicht an Kleidungsvorschriften, auch wenn polternde Festzeltpolitiker ihrem dumpfen Wahlvolk einzureden versuchen, dass das böse Fremde sie gefährde. Sie entzieht sich in ihrer Undefinierbarkeit jeder schlüssigen Definition, kann nur erspürt, nicht erfasst werden, sie verweigert sich kopfschüttelnd jeder Instrumentalisierung.
Aber sie ist da.
Ob wir wollen oder nicht.