Natürlich hat man als lesender Mensch Buchhandlungen, die man gerne, aber meist viel zu selten aufsucht. So auch ich. Eine davon war die leider nicht mehr existierende Buchhandlung Janetschek im nahen Städtchen Heidenreichstein. Es handelte sich bei diesem Geschäft um ein irgendwie charmantes All-Inclusive-Paket für Bibliophile, Schulkinder und Last-Minute-Geburtstagsgeschenk-Einkäufer.
Da die Belegschaft aber durchaus kreativ für die Belebung der Lokalität mittels diverser Veranstaltungen sorgte, wurde eines Tages auch ich eingeladen, meine neu überarbeitete Version von "Nordwandern" dort im Rahmen einer Lesung vorzustellen.
So weit, so simpel.
Allerdings würde die gegenständliche Präsentation eine besondere sein, sie sollte - bezugnehmend auf die Machart des Buches - wandernd und damit an verschiedenen Lokalitäten erfolgen, die sinnvollerweise Verbindung zu den Texten haben müssten.
"Nette Idee", war mein erster Gedanke, als die Buchhändlerin mir dieses Konzept vorstellte (vor allem, da meine Frau sie auch schon gehabt hatte), "machen wir es so."
Zuallererst musste ich also überlegen, in welchen Kapiteln Heidenreichstein denn nun vorkam. Glück gehabt, das waren gleich ein paar. Nicht viele, aber doch. Für eineinhalb Stunden Spaziergang mit Lesungsfetzen allemal genug:
Die romantische Wasserburg, der idyllische Stadtplatz mit seinem Pranger plus Zankstein und Bierglocke sowie nicht zuletzt ein Kriminalfall, der im Buch erwähnt wird und den letzten in Heidenreichstein hingerichteten Räuber als Protagonisten aufweisen kann. In diesem Zusammenhang wäre es doch perfekt, so mein naiver Gedanke, den hoffentlich schaudernden Zuhörerinnen und Zuhörern die nämliche Textpassage im Schatten des örtlichen Galgens vorlesen zu können. Oder - wenn jener nicht mehr erhaben genug wäre, um einen nennenswerten Schatten zu werfen - zumindest dort, wo er einmal gestanden hätte.
Jetzt verhält es sich aber so, dass Heidenreichstein etwas Besonderes im (politisch gesehen) tiefschwarzen Waldviertel ist, da es einen der SPÖ zugehörigen Bürgermeister aufweisen kann. Insofern ist die Todesstrafe ebenso wie der Ruf nach ihr im Gemeindeleben nicht allzu präsent, auch wenn das kleine Grüppchen der lokalen Freiheitlichen seit Jahren in den Sozialen Netzwerken für ihre radikale, wenn auch unfreiwillig komische Art berüchtigt ist.
Wo also sollte der Urheber dieser Zeilen nach dem Galgen suchen? Gehegt und gepflegt, jederzeit auf seinen erneuten Einsatz wartend, würde er ihn wohl nicht antreffen.
Also war Recherche angesagt:
Tante Google wurde zu Rate gezogen - nichts.
Der eine oder andere Heidenreichsteiner wurde befragt - nichts.
Meine gar nicht kleine Bibliothek wurde durchsucht - nichts.
Diverse Universitätswebseiten wurden akribisch durchforstet - nichts.
Da half nur logisches Schlussfolgern und das Hervorkramen buchstäblich erlesener Informationen zum Thema Hinrichtung im ländlichen Österreich - und das führte mich mit ein wenig Glück auf die richtige Spur.
Exekutionen wurden über Jahrhunderte hinweg vorzugsweise an zwei Orten durchgeführt: entweder auf einem zentralen Platz, falls es sich um Enthauptungen handelte, oder auf einem möglichst ausgesetzten Ort knapp außerhalb der Stadt, vorzugsweise nahe einer Landstraße, sofern der Delinquent gehängt werden sollte. Dort konnte man (vor allem im Mittelalter, aber auch noch später) Leichen gerne einmal ein wenig länger hängen lassen, um Reisenden die Durchsetzungskraft der örtlichen Behörden deutlich zu machen.
Somit war es nur logisch, den Standort des Heidenreichsteiner Galgens in Sichtweite einer der in die Stadt führenden Straßen zu suchen. Doch an welcher?
Mein erster Gedanke galt dem Areal der Käsemacherwelt: Oberhalb der Stadt an der Straße nach Norden - also Richtung Prag - gelegen, mit Blick auf Burg und Kirche, erschien diese Anhöhe wie geschaffen für eine gepflegte Hinrichtungsstätte. Wenn dem so wäre, müssten alte Flurnamen diesen Verdacht stützen, dachte ich und machte mich mit Hilfe von Wanderkarten, aber auch online auf die Suche. Doch alle Ortsbezeichnungen dokumentierten, dass es sich bei dieser Anhöhe seit beeindruckend langer Zeit um Ackerland handeln musste. Fehlanzeige.
Ich suchte also weiter. Der Umstand, dass der alte Ortskern Heidenreichsteins in einer Senke liegt (und dementsprechend quasi rundum von Anhöhen umgeben ist), machte die Sache nicht einfacher.
Beim Stöbern nach verräterischen Flurnamen hatte ich jedoch unter anderem die Website OpenStreetMap zurate gezogen. Und dort - und nur dort - stach mir südöstlich der Stadt etwas ins Auge:
Wenn es also im Bereich des sogenannten Stadtbergs einen Galgengraben gab, dann war ich quasi am Ziel meiner Suche. Doch führte der Graben direkt zum ehemaligen Richtplatz? Befand er sich nur in seiner Nähe? Wie sollte ich den genauen Standort des Galgens finden?
Zwei Möglichkeiten schienen denkbar:
1) Ich müsste Unterlagen aus einer Zeit auftreiben, in der in unseren Landen noch fröhlich hingerichtet wurde und der Galgen dementsprechend offen auf Karten eingezeichnet war oder
2) ich hätte Nachforschungen vor Ort anzustellen.
Am erfolgversprechendsten erschien mir eine Kombination - nämlich Hinweise auf antiquarischen Landkarten in natura zu überprüfen.
Bald schon wurde ich fündig: Auf einem Blatt der "Josephinischen Landesaufnahme", einer Kartensammlung, die in den Jahren zwischen 1763 bis 1787 erstellt worden war, fand ich das folgende verräterische Zeichen (nein, nicht den roten Pfeil, sondern das Gekrakel, auf das dieser zeigt):
Durch mein seit frühester Jugend sorgsam gepflegtes Naheverhältnis zum Makabren war mir sofort klar, dass es sich dabei um das - sogar ziemlich realistisch wiedergegebene - Zeichen für den Heidenreichsteiner Galgen handeln musste. Immerhin sahen diese bei uns selten so aus, wie man sie aus Spaghettiwestern kennt. Viel eher waren die Blutgerüste meist Steinsäulen, die mit Holzbalken verbunden waren, an welchen die Delinquenten erhängt wurden.
Ich verglich also jene Karte aus der Rokokozeit penibel mit Satellitenbildern sowie modernem Kartenmaterial und kam zu dem Schluss, dass die ehemalige Hinrichtungsstätte Heidenreichsteins heute von Wald überwuchert sein dürfte. Doch wäre es mir möglich, noch Hinweise auf den Galgen zu finden? Hatte sich irgendetwas erhalten?
Dafür musste ich wohl oder übel ins Gelände.
Ein guter Grund für einen kleinen Spaziergang.
Somit wanderte ich entlang der frisch asphaltierten Waidhofener Straße aus der Stadt bergauf, bog nach dem ehemaligen Betriebsgelände der Firma Zimm links auf einen markierten Wanderweg und hielt die Augen offen: Immerhin war ich laut den Ergebnissen meines Kartenstudiums ja gerade durch den Galgengraben unterwegs, das Ziel war also nah. Der Weg führte mich zu einem Haus, das am Ende eines großen Grundstücks mit Obstbäumen, Gemüsegarten und Bienenstock am Waldrand thronte. Ein wenig wirkte es, als ob es die Bäume in seinem Rücken beschützen wollte, ein Eindruck, der einerseits lächerlich, andererseits aber kaum wegzuwischen war. Im Garten stand eine ältere Frau. Als ich vorbeiging, grüßte ich und ihr Blick sagte mir, sie habe verdient zu erfahren, warum ich an ihrem Gartenzaun entlangspazierte. Darum bemerkte ich direkt: "Ich bin auf der Suche nach Spuren des Galgens. Er müsste irgendwo dort oben gestanden sein." Dabei wies ich auf den Wald hinter dem Haus. Sie nickte. "Ja, das ist der Galgenhügel", meinte sie, "aber da hinten sind nur Bäume und Wiesen." Warum bloß hatte ich diese Frau nicht früher getroffen? Andere Eingeborene hatten bei meiner Frage nach dem Galgen lediglich entschuldigend die Achseln gezuckt. "Ich möchte einfach schauen, einen Eindruck gewinnen", antwortete ich. Und wie eine Entschuldigung für mein merkwürdiges Verhalten setzte ich hinzu: "Ich schreibe über die Gegend."
Die Frau lächelte. Nun schien sie mich einordnen zu können: Künstler. Spinnert, aber harmlos.
Ich stapfte bergauf.
Mir war bewusst, dass das Blutgerüst ausgesetzt gestanden haben musste, auf der Kuppe des Hügels, am besten mit Blick auf die Burg, sichtbar von der vorbeiführenden Straße aus. Da dort heute Wald wuchs, war der Charakter des Ortes mit Sicherheit ein anderer, zu finden aber musste der Standort des Galgens noch immer sein.
Ich hatte Glück. War auf der Satellitenaufnahme noch geschlossener Wald auf der Hügelkuppe erkennbar gewesen, hatte der Sturm im vorangegangenen Herbst diese wieder ein wenig mehr in den Zustand versetzt, in dem sie sich zur Zeit öffentlicher Hinrichtungen befunden haben musste. Die Stümpfe gefallener Bäume waren noch erkennbar, teilweise durch die Wucht des Sturzes geborsten, teilweise aus dem Boden gerissen. Die Stämme waren bereits abtransportiert, nur ganz junge Fichten kämpften sich durch Brombeerranken ans Licht und verblühte Königskerzen zeigten wie mahnende Finger Richtung Himmel.
Ich blickte um mich: Ganz sicher, hier war der höchste Punkt der Gegend. Der Hügel fiel Richtung Heidenreichstein steiler ab, Richtung Motten floss die Landschaft sanft nach unten. Ich stand auf dem Gipfel.
Aus der ehemaligen Krautschicht, die mittlerweile zur bestimmenden Vegetation hier heroben geworden war, ragte ein graues Metallrohr, dessen Ende mit gelbem Lack und rot-weiß-rotem Klebeband markiert war. Es zeigte eindeutig den höchsten Punkt des Hügels an - und damit wohl unfreiwillig auch den ehemaligen Standort des Heidenreichsteiner Galgens.
So hatte ich also den alten Richtplatz gefunden. Hier war wohl auch - wie bereits erwähnt - Heidenreichsteins letzter offizieller Delinquent, ein Zeitgenosse des Räubers Johann Georg Grasel, hingerichtet worden.
Die Stadt hatte diesen Ort aber offensichtlich vergessen wollen, hatte ihn der Natur zurückgegeben (oder einem Forstwirt zur Nutzung überlassen). Wald war über den Galgenhügel gewachsen, hatte Todesangst und Sensationsgier vergessen gemacht, war ganz ruhig geworden. Nur der Herbststurm hatte die Wunde wieder aufreißen wollen.
Gerade als ich mich zum Gehen anschickte, fiel mir etwas auf, etwas, das zwischen all den Pflanzen der Zeit trotzte, etwas, das schon hier gelegen hatte, als ein Freizeitvergnügen der Heidenreichsteiner Bevölkerung noch das Applaudieren für geglückte Henkersarbeit gewesen war: ein Granitblock.
Der Galgen, der sich einmal auf dieser Kuppe erhoben haben musste, war spurlos verschwunden. Doch der Felsen, auf den sich wohl Kinder gestellt hatten, um die Todesangst der Delinquenten besser studieren zu können, auf dem vielleicht Zuschauer den über ihnen im Todeskampf Zappelnden zugeprostet hatten, der lag noch da.
Der liegt noch immer da.
Immer.