Das Kreuz mit dem Kreuz

In Litschau erzählt man sich gerne folgende Sage:

 

Einst war von der Gerichtsbarkeit zu Litschau ein Kirchenschänder dem Volk zur Steinigung überlassen worden. Das Urteil lautete, dass er von der Antoniussäule zwischen Reihen von Menschen, die ihn mit Steinen bewerfen durften, bis zur Gemeindegrenze von Litschau gegen Reitzenschlag laufen musste. Falls er lebendig dort ankäme, wäre sein Verbrechen gesühnt und er wieder frei. Es kam aber anders. Als der Verurteilte auf den Galgenhügel gebracht wurde, waren bereits viele Menschen da. Große und kleine Steine in den Händen, warteten sie auf das Zeichen zum Beginn - und schon flogen die ersten Steine los. Eine wilde Treibjagd hob an. In wahnsinnigem Tempo stürzte der Verurteilte davon, den Abhang hinab, der Gemeindegrenze zu, hinter ihm die wütende Menge. Kurz vor dem rettenden Ziel stürzte er und wurde vom Steinhagel tödlich getroffen. Man begrub ihn an Ort und Stelle. Zum Gedenken an diesen zu Tode gesteinigten Sünder wurde über dem Grab ein Steinkreuz errichtet.

 

Vereinzelt hört man auch die Version, dass das Kreuz als Grenzmarke zwischen Litschau, Reitzenschlag und Loimanns schon zuvor bestanden habe. Der Verbrecher habe also versucht, diese Grenze zu erreichen, um aus dem Gerichtsbezirk, in dem er verurteilt worden war, zu entkommen, sei aber schon getötet worden, bevor ihm dies gelang.

Wunderbar schaurig, oder? Von archaischer Wucht. Dramatisch.

Nur leider vollkommen frei erfunden.

 

Wie kann der Autor dieser Zeilen aber die Unverschämtheit besitzen, eine Story, die seit Generationen zum fixen Repertoire jedes traditionsbewussten Litschauer Geschichtenerzählers gehört, kaltschnäuzig als Fantasieprodukt abzukanzeln?

Selbst Karl Zimmel, der sonst so akribisch vorgehende Heimatforscher und Bürgerschullehrer für Deutsch, Geografie und Geschichte, führt sie in seiner Chronik im Jahre 1912 an. Zwar betitelt er sie eindeutig als Sage und nicht als Tatsachenbericht, verliert aber kein Wort darüber, dass einige darin enthaltene Elemente vehement gegen ihre Historizität sprechen.

Wieso denn das? Klingt die Geschichte denn nicht logisch?

Doch, auf den ersten Blick funktioniert sie gut.

Auf den zweiten allerdings schon nicht mehr.

Meiner Meinung nach sind es fünf Punkte, die gegen die Glaubwürdigkeit der Sage sprechen:

 

1) Kirchenschändung war und ist ein Vergehen mit großer Bandbreite. In wirklich schwerwiegenden Fällen (wie etwa Blutvergießen in der Kirche) war zu manchen Zeiten tatsächlich auch in Österreich die Todesstrafe vorgesehen. Allerdings wurde diese in jenem Fall durch Rädern oder Verbrennen vollstreckt. Steinigung war im Waldviertel - wie in ganz Mitteleuropa - hierfür vollkommen ungebräuchlich.

 

2) Falls es sich um eine Art Gottesurteil handeln sollte, wie im Text angedeutet wird, so wäre dies im Zusammenhang mit einer Kirchenschändung auch nicht üblich - außer es bestände berechtigter Zweifel an der Schuld des Beklagten. Doch hierfür gibt es in der Sage nicht den geringsten Hinweis, ganz im Gegenteil.

 

3) Das Spießrutenlaufen, das in der Geschichte beschrieben wird, war eine militärische Ehrenstrafe, die im Dreißigjährigen Krieg erstmalig dokumentiert ist. Sie wurde (wie der Name schon sagt) mit Spießen, später mit Ruten ausgeführt - aber nicht mit Steinen und nicht bei Vergehen gegen die Kirche.

 

4) Reitzenschlag konnte dem Delinquenten keinen Schutz bieten: Dieser Ort gehörte ebenso wie Loimanns seit jeher zum Litschauer Gerichtsbezirk. Die Gemeindegrenze war in jenem Zusammenhang vollkommen bedeutungslos.

 

5) Einem Verbrecher, den man nicht einmal in geweihter Erde bestatten wollte, hätte man wohl kein steinernes Kreuz gespendet, um an ihn zu erinnern.

 

Nein, wenn man die Sage etwas genauer unter die Lupe nimmt, merkt man nur zu deutlich, wie konstruiert sie ist.

Doch was hat es mit diesem kleinen Granitkreuz mitten im Wald wirklich auf sich?

Um das zu ergründen, schwang ich mich am Pfingstsonntag - wohl auf Erleuchtung von oben hoffend - auf mein Mountainbike und suchte den Standort nach langer Zeit wieder einmal auf.

Seit ich vor etwa dreißig Jahren erstmalig dort war, habe ich mich definitiv stärker verändert als das Kreuz.

Es steht aufrecht (okay, ich auch noch) und scheint einen sanften Abhang hinabzublicken (ich nicht immer). Die Fichte an seiner Seite umschlingt es regelrecht mit ihren Wurzeln. Vor ihm befindet sich eine Plastikblumenkiste mit Kunstblumen, alles bereits ein wenig mitgenommen. Im Laufe der Zeit habe ich dort aber auch schon echte Blumen und Kerzen vorgefunden. Das Kreuz wird also offenbar tatsächlich als Grabmal gesehen.

 

Welchen Zweck mochte es aber wirklich einmal gehabt haben?

Niemand hätte sich - früher nicht und heute wohl auch nicht - die Mühe gemacht, einen Granitblock zu behauen, diesen an eine bestimmte Stelle zu transportieren, dort eine Grube auszuheben, ihn hineinzuwuchten und vielleicht auch noch in eine bestimmte Richtung auszurichten, wenn es nicht einen handfesten Grund dafür gegeben hätte.

 

Ich blickte mich um und versuchte, im Gelände Anhaltspunkte für die sicher einmal existierende Funktion dieses Objekts zu finden.

Außer, dass heute ein markierter Fußweg an dem Kreuz vorbeiführt und es über einem Graben (vielleicht einem ehemaligen Bachbett) zu thronen scheint, weist die Umgebung keine Besonderheiten auf.

An dem Kreuz selbst fällt auf, dass es nicht ganz symmetrisch ausgearbeitet ist - und diese Unregelmäßigkeiten sind definitiv nicht auf Verwitterung zurückzuführen. Entweder ist hier einstmals kein Profi am Werk gewesen oder große Eile hat bei seiner Errichtung eine Rolle gespielt. Beides würde prinzipiell zum Inhalt der Sage passen. Trotzdem, die historischen Ungereimtheiten überwiegen.

 

Der Umstand, dass seine Basis (wie auf den Fotos unschwer zu erkennen) schon knapp unter dem Querbalken des Kreuzes extrem verdickt ist, fiel mir an diesem Sonntag erstmalig auf. Merkwürdig - sowohl die Form als auch die späte Erkenntnis meinerseits. Die Versuchung war groß, den im Erdboden befindlichen Teil freizulegen und näher zu untersuchen, doch ohne Werkzeug und ohne zu wissen, wie tief das gesamte Objekt denn wirklich im Boden steckte, verwarf ich den Gedanken sofort wieder. Er würde mich wohl auch nicht viel weiterbringen.

 

Schon auf der Suche nach dem Heidenreichsteiner Galgen kurz zuvor hatte mich das Studium alter Pläne im Vergleich mit modernem Online-Kartenmaterial einen Schritt weitergebracht. Würde es mir auch im Fall dieses kleinen Steinkreuzes neue Erkenntnisse liefern?

Ich stieg also auf meinen Drahtesel und radelte nach Hause.

Dort erwartete mich beim Studium der alten Karten eine Überraschung, allerdings eine, die mir im ersten Moment als Rückschlag erschien: Weder im 18. noch im 19. Jahrhundert hatte man es für notwendig erachtet, das Kreuz irgendwo einzuzeichnen. Jeder Bachlauf, jeder Teich, jede Scheune und unzählige Wegkreuze finden sich auf Plänen der Gegend - nicht so das Granitkreuz, das ja sogar mit einer eigenen Sage aufwarten kann, also doch eine gewisse Prominenz besitzt.

Wusste man eventuell nichts von seiner Existenz, war es vielleicht verwachsen, von Erde bedeckt?

Ich denke nicht. Eher war sein unauffälliger Standort weitab von Wegen für die Kartenzeichner nicht interessant, vielleicht wurde es von ihnen auch regelrecht übersehen.

Dass das Kreuz erst nach Erstellung der Karten (also Ende des 19. Jahrhunderts) errichtet wurde, halte ich persönlich für unwahrscheinlich. Von der Machart wirkt es wie ein typisches Steinkreuz aus dem 16. oder 17. Jahrhundert. Diese wurden meist als Grenzmarkierungen gesetzt, waren Ziel von Prozessionen oder markierten den Verlauf von Pilgerwegen.

War es vielleicht ein Sühnekreuz? Diese waren ein Erfüllungsteil von Verträgen, welche zwischen zwei verfeindeten Familien geschlossen wurden, um eine Blutfehde wegen eines begangenen Mordes oder Totschlages zu beenden. Sie sind auch bis ins 17. Jahrhundert hinein im Waldviertel nachweisbar. Eine Funktion als Sühnekreuz halte ich in diesem Fall allerdings für nicht wahrscheinlich, weil diese meist ein Symbol, das auf das Verbrechen hindeutete, eingearbeitet hatten. Gerade deshalb wäre allerdings die Untersuchung des unterirdischen Sockelteils nicht uninteressant.

 

Was aber durch das Kartenstudium deutlich wurde, waren drei Umstände:

1) In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts standen zumindest zwei Gebäude in der Nähe des Granitkreuzes, die Lage der beiden zueinander würde auf ein Wohngebäude und einen Schuppen oder eine Werkstatt hindeuten.

2) Um das Kreuz war nicht immer Wald. Jahrzehntelang musste es mitten auf einer länglichen Wiese gestanden haben.

3) Das kleine Steinkreuz steht bis heute tatsächlich (fast) genau dort, wo sich die Gemeindegrenzen von Litschau, Loimanns und Reitzenschlag treffen.

Antonius- oder Scharfrichtersäule
Antonius- oder Scharfrichtersäule

 

So saß ich also vor einem Berg von Puzzlesteinen verschiedenster Hinweise - manche wohl wichtiger, andere weniger.

Was aber sollte ich nun von dem Kreuz halten? War es ihm bestimmt, ein Rätsel zu bleiben? Sollte es wirklich nicht möglich sein, dieses kleine Granitobjekt als das zu sehen, was es ist?

 

Nachdem alle Informationen zusammengeflossen waren, erschien mir folgende Deutung als die wahrscheinlichste:

 

Das Kreuz war nie etwas anderes als eine Landmarke, die die Grenze der Gemeindegebiete anzeigte. Dabei bestand wohl keine direkte Beziehung zur nicht allzu weit entfernten Richtstätte in Loimanns (siehe Kapitel 16 meines Büchleins "Nordwandern"). Trotzdem wird es bis heute fallweise "Galgenkreuz" genannt, vielleicht aufgrund einer Verwechslung mit dem ehemals tatsächlich existierenden Galgenkreuz, das an der Stelle der heutigen Antonius- oder Scharfrichtersäule am anderen Ende von Loimanns gestanden ist.

 

Ein ganz unspektakulärer Grenzstein also?

Kein düsteres Geheimnis? Keine Sensation?

Warum aber lässt man sich dann eine (wenn auch scheinbar frei erfundene) Sage zu dem Kreuz einfallen?

Weshalb schmückt man es bis heute - wenn auch nur mit Plastikblumen?

Irgendetwas muss es doch von vielen anderen Landmarken unterscheiden, die kaum unsere Beachtung finden.

Oder ist alles im Zusammenhang mit diesem kleinen Steinkreuz nur ein großes Missverständnis?

Nein, ich bin überzeugt, dass in der Aufmerksamkeit, die dem Kreuz zuteil wird, die Erinnerung an seine ehemalige Wichtigkeit mitschwingt. Es hat auch einen Grund, warum es wohl nie von seinem Aufstellungsort entfernt wurde, warum es auch in einer Wiese stehen durfte, obwohl es beim Mähen derselben sicher ein Hindernis und eine Gefahr für die Sensenblätter war.

 

In Zeiten, in denen das Lesen wenigen Menschen vorbehalten war, als Pläne etwas für Gelehrte oder hochgestellte Militärs waren, mussten Grenzen von den meisten Mitbürgern im Gedächtnis behalten werden, um sie beachten zu können. Bauern mussten genau wissen, welche Fluren von ihnen bestellt werden durften, und auch das Jagen war selbst den Adeligen nur innerhalb der eigenen Besitzgrenzen erlaubt. Von diesen, von Ackerland und Jagdrevieren, hing in früheren Zeiten das Überleben einer Gemeinschaft ab.

Dementsprechend wichtig war es also, die Gemeindegrenzen genau zu kennen. Bräuche, bei denen jene Grenzen gemeinsam abgeschritten wurden, sind bereits von den Römern überliefert. Diese "Ambervalien" wurden im Frühling unter der Aufsicht von eigens dafür ernannten Beamten durchgeführt. Auch die Germanen, die Kelten und die Slawen hatten ähnliche, teilweise sogar an die römischen Bräuche angelehnte Traditionen. An besonders wichtigen Punkten wurden Landmarken in Form von Holzpfählen oder Steinstelen errichtet.

Diese Bräuche hielten sich auch noch nach der Christianisierung, sie wurden - mit nur leichten Abweichungen - viele Jahrhunderte lang beibehalten. Zwar wurden bei den Grenzmarkierungen keine (Tier-)Opfer mehr gebracht und die Landmarken auch nicht mehr mit Blut bestrichen. Um sich die wichtigsten Grenzmale aber besonders gut einzuprägen, wurde beim sogenannten "Gmoarigehen" noch bis in die jüngste Vergangenheit hinein den jungen Gemeindebürgern dort die "Bürgermeister-Watschn" verabreicht.

 

Ob die Sage also noch eine verzerrte Erinnerung an ehemals an dieser Grenzmarke abgehaltene Misshandlungen (oder noch weiter zurückliegende Opferungen) ist, wage ich nicht zu behaupten.

Dass das beharrliche Schmücken des Granitkreuzes eine unverstandene Ehrung der früheren Wichtigkeit des Platzes ist, davon bin ich allerdings überzeugt.

 

Und wer sich auf die Suche nach dem Kreuz begeben möchte, der findet es hier... ;-)