Symbole

Die Leute sind heute anders als früher. Ganz anders.

Meine letzten Gedanken zum Innenraum der Litschauer Pfarrkirche suggerieren das: Die Zeit, in der jener Raum konzipiert worden ist, unterscheidet sich von unserer heutigen Lebensumwelt deutlich. Zumindest, was das Gebaren der römisch-katholischen Kirche ihren Schäfchen gegenüber angeht.

Doch Auffassungsgabe und Beeinflussbarkeit der Menschen sind heute wohl nur unwesentlich anders als damals. Es sind festgeschriebene psychische Parameter, die von der Urzeit bis in die Gegenwart das Verhalten unserer durchaus berechenbaren Spezies bestimmen.

Ein Beispiel gefällig?

 

Eines jener geradezu archaischen Elemente ist die seit grauer Vorzeit bestehende Attraktivität von Symbolen: Politische Haltungen, Religionen, Weltanschauungen werden seit jeher in einfach wiederzuerkennende, reduzierte Zeichen gegossen. Zu ausufernd wären die ihnen zugrunde liegenden Theorien. Obwohl auch als Buchreligionen bezeichnet, steht letzten Endes kein stilisiertes Buch für eine der Weltreligionen. Kreuz, Halbmond oder Davidstern werden schneller und eindeutiger wiedererkannt als die schriftlichen Grundlagen dieser Glaubensgebäude. Noch komplizierter macht dies der Umstand, dass sich ja verschiedene Religionen teilweise auf dieselben Schriften berufen.

Symbole vereinen, sind identitätsstiftend einerseits, können andererseits aber auch "die anderen" brandmarken - man denke nur an die verschiedenen Symbole auf der Häftlingskleidung der KZ-Lagerinsassen im Dritten Reich.

 

Auf alle Fälle fassen Symbole Komplexes zusammen, machen es sichtbar, repräsentieren, haben eine Aussage, sind klar und schnell verständlich.

Oder auch nicht.

Hinterhältigerweise ist die Bedeutung von Symbolen nämlich seit jeher Ansichtssache. Nicht umsonst existiert ein eigener Wissenschaftszweig, die Semantik, die sich (unter anderem) mit dieser Problematik auseinandersetzt. Ein kleines Beispiel: Während die Swastika als Glückssymbol seit etwa 9000 Jahren in den verschiedensten Kulturkreisen der Erde nachweisbar ist, hat sie, bedingt durch ihre Verwendung als Symbol der NSDAP, unter dem Namen Hakenkreuz in großen Teilen der Welt einen massiven Bedeutungswandel durchgemacht. Die Botschaft des Symbols liegt also eindeutig im Auge des Betrachters.

Oder anders ausgedrückt: Man sieht, was man zu sehen gelernt hat.

Quelle: www.wikipedia.org
Quelle: www.wikipedia.org

Man könnte natürlich argumentieren, dass Symbole heutzutage eine untergeordnete Rolle spielen: Zu umfassend informiert und belesen seien die Menschen, zu wenig bereit, sich von einfachen Zeichen beeinflussen zu lassen. Ihre Haltungen zu politischen oder religiösen Problemfeldern seien ausschließlich auf der Basis des Wissens um komplexe Inhalte gebildet. Oder einfacher ausgedrückt: Niemand lässt sich durch Symbole für etwas begeistern oder gegen etwas aufhetzen, wir sind doch alle viel zu cool.

Früher hat das ja vielleicht noch funktioniert. Im finsteren Mittelalter zum Beispiel, als sich die Krieger von Kreuz und Halbmond im Nahen Osten die behelmten Schädel eingeschlagen haben. Heute doch nicht mehr. Wir sind doch alle aufgeklärt und zivilisiert.

Sollte man meinen.

 

Um zu zeigen, dass dem nicht so ist, möchte ich an dieser Stelle ein äußerst amüsantes Beispiel aus der österreichischen Innenpolitik der jüngsten Vergangenheit anführen:

 

Alles begann mit einer Rede des Gewerkschaftsbund-Funktionärs Willi Mernyi beim 19. Bundeskongress des ÖGB. Auf das Rednerpult hatte dieser - ein beliebter Kniff geübter Vortragender - zur Illustration seiner Argumente ein Anschauungsobjekt gelegt, in diesem Fall einen Pflasterstein, der in seiner Ansprache eine zentrale Rolle spielen sollte.

Mernyi hielt seine Rede, brachte das Beispiel eines Wiener Pflasterers, dem durch die von der Regierung ermöglichte Arbeitszeitflexibilisierung große Nachteile erwachsen würden. Eine sehr emotionale Rede, sehr kämpferisch, sehr hemdsärmelig, in bester Tradition sozialistischer Arbeiterführer - und gerade dadurch sehr öffentlichkeitswirksam.

Der Pflasterstein als anschauliches Zeichen für die Schwere der Arbeit sollte sich bei den Zuhörerinnen und Zuhörern ins Gedächtnis brennen, sollte eine Zusammenfassung der Inhalte der Rede sein, Symbol des Arbeitsleids, das nach Meinung der Gewerkschaften durch die Maßnahmen der Regierung in unverantwortlicher Weise gesteigert würde.

Ein Symbol war geschaffen.

Dachte Mernyi.

 

Wie schnell sich jedoch ein vordergründig origineller Einfall in ein veritables Eigentor verwandeln kann, musste der gesamte Österreichische Gewerkschaftsbund bald darauf erfahren:

Bezugnehmend auf die erwähnte Rede legten nämlich zwei ÖGB-Jugendfunktionäre in einer Nacht-und-Nebel-Aktion Grabkerzen und Pflastersteine vor Wohnungen und Büros von Abgeordneten der Regierungsparteien, was zum Ausdruck bringen sollte, dass diese Maßnahmen zur Arbeitszeitflexibilisierung in ihren Augen entwürdigend, gefährlich, vielleicht sogar tödlich sein könnten.

Klassenkampf-Symbolismus at its best.

Dachten die beiden Nachwuchs-Gewerkschafter.

Quelle: ORF Salzburg
Quelle: ORF Salzburg

Was sie jedoch nicht bedachten, war der Umstand, dass in der Liebe, im Krieg und in der Politik jedes Mittel erlaubt ist, sofern es nur zum gewünschten Ziel führt - auch und besonders demonstratives Dummstellen.

 

In stillschweigender Berufung auf diesen Umstand beschloss der politische Gegner nämlich prompt, so zu tun, als habe er die oben angeführte Rede nie gehört und deutete die Aussage des Pflastersteins kurzerhand um: Aus dem Symbol des Arbeitsleids entstand ganz schnell ein Symbol für politisch motivierte Gewalt, hatte doch zwei Jahre zuvor ein deutscher Demotourist linksextremer Couleur einen deutschen Demotouristen rechtsextremer Couleur bei einer Kundgebung in Wien mit einem solchen Pflasterstein verletzt.

Der Aufschrei war groß, das rechtskonservative Lager konnte sich genussvoll als Märtyrer seiner politischen Überzeugungen präsentieren und die immer wieder unbequemen Gewerkschaften wurden in der Öffentlichkeit als gewaltbereite Krawallbrüder gebrandmarkt.

Zwar war die Aufregung aufgrund der Durchschaubarkeit der Sache eine erwartungsgemäß kurze, ein Strohfeuer im politischen Flächenbrand, aber sie macht doch deutlich, wie gerne sich der Mensch bis heute an die Macht der Symbole klammert.

 

Um unsere Umwelt zu verstehen, um Freund und Feind zu erkennen, um Gefahren rechtzeitig wahrzunehmen, um uns in fremder Umgebung zu orientieren, für all das und noch viel mehr sind Symbole unverzichtbar - bis heute.

Umso interessanter erscheint es mir, noch existierende Symbole vergangener Zeiten aufzuspüren und ihre ehemalige Bedeutung zu entschlüsseln. Das eröffnet neue Perspektiven auf die Lebensumstände unserer Vorfahren und verändert den Blick auf Orte, die früher Funktionen hatten, welche man heute nicht mehr vermuten würde.

Der alte Zeichenstein bei Reingers (über den ich in meinem Buch "Nordwandern" ausführlich geschrieben habe) ist so ein Beispiel:

Was stellen die beiden Symbole auf seiner Oberfläche dar?

Welche Bedeutung haben sie?

Können wir ihre Botschaft überhaupt noch richtig verstehen?

 

Der Schöpfer dieses Steins stellte sich diese Fragen nicht, ihm war klar, was er tat. Er wusste, warum die Zeichen genau an jenem Stein dort im Wald anzubringen waren. Ihm war klar, was sie bedeuteten.

Missverständnisse waren ausgeschlossen.

 

Das weiße, auf einer Spitze stehende Dreieck mit dem roten Rand an der nahen Straßenkreuzung wäre für ihn aber ein schier undurchschaubares Geheimnis.