Hat man das Bedürfnis, sich unverschämterweise bei einem alten Freund einzuladen, so ist das per se ja noch nichts Außergewöhnliches. Wohnt jener Freund im selben Bundesland, so klingt dieses Vorhaben noch einmal weniger spektakulär. Allerdings sollte man dabei bedenken, dass Niederösterreich das (flächenmäßig) größte der neun österreichischen Bundesländer ist und dementsprechend kann so ein Besuch schon ein paar Anreisekilometer bedingen - selbst wenn man im nördlichsten Bereich bleibt. Im gegenständlichen Fall waren das etwa 120 Kilometer Beinahe-Luftlinie.
Es folgt (meinem Lehrerberuf geschuldet) eine kurze Erklärung für alle geografisch nicht so Versierten. Niederösterreich besteht nämlich aus mehreren Teilen, den so genannten Vierteln: Waldviertel, Weinviertel, Mostviertel und Industrieviertel.
Die beiden erstgenannten bilden die Nordhälfte des Bundeslandes, die anderen die Südhälfte. Mein Freund Mario ist im Weinviertel (Bezirk Mistelbach) beheimatet, ich - wie man als aufmerksame Leserin oder aufmerksamer Leser dieser Website weiß - im Waldviertel (Bezirk Waidhofen an der Thaya). Wir verabredeten uns also für eine gemütliche Sommergrillerei auf der Terrasse meines Freundes. So weit, so unspektakulär. Da die Anreisedistanz ja doch eine etwas weitere war, beschlossen wir, dass ich gleich auch den nächsten Tag bei ihm verbringen und am übernächsten Morgen die Rückreise antreten sollte.
Mein Hang zu Mikroabenteuern wiederum ist allen bekannt, die die Beiträge des vorliegenden W4WorkOut-Blogs gelesen haben, ergo wäre eine Autofahrt eindeutig zu langweilig. Für eine Radtour war die Strecke allerdings offensichtlich wie geschaffen.
Gedacht, getan - ausgiebig gefrühstückt, die Packtaschen am Trekkingbike gefüllt, Fahrradhelm aufgesetzt und schon konnte es an einem strahlend schönen Mittwochvormittag losgehen.
Bis auf ein paar kleinere, knackige Anstiege ging es tendenziell leicht bergab, die Sonne schien, das Waldviertel zeigte sich von seiner freundlichsten Seite - Herz, was willst du mehr? Somit war (als der Magen zaghaft nach Arbeit verlangte) auch nur eine sehr kurze Mittagsrast notwendig. Google Maps hatte eine wirklich schöne Radroute errechnet, die ziemlich direkt und großteils auf Güter- oder Feldwegen gen Südosten führte. Manchmal hat die Digitalisierung ja durchaus Vorteile.
So dauerte es nicht allzu lange und die Grenze zwischen Wald- und Weinviertel war überschritten.
Apropos: Landschaftlich ist diese recht klar definiert. Alles, was auf dem Granit- und Gneishochland der Böhmischen Masse liegt, gehört zum Waldviertel. Doch für jene, die etwas gemütlicher - also beispielsweise auf dem Fahrrad - unterwegs sind, ist unübersehbar, dass es eine Übergangszone gibt: Gegenden, deren Bewohnerinnen und Bewohner sich gewiss als Waldviertlerinnen beziehungsweise Waldviertler bezeichnen würden, in denen aber bereits vereinzelte Weingärten und damit auch die eine oder andere Kellergasse zu finden sind. Ebenso macht sich in manchen (nordwestlichen) Ecken des Weinviertels durchaus schon typische Waldviertler Vegetation breit. Dazu später noch mehr.
Bald aber schon war das Weinviertel unverkennbar und es ging nur mehr flach - da auf ehemaligem Meeresboden - dahin. Unterwegs passierte ich sogar das "Zwillingsdorf" meines Wohnortes Peigarten. Der einzige wirkliche Wermutstropfen dieser Tour war, dass mir etwa 30 Kilometer vor ihrem Ende das Wasser ausging. Natürlich hätte ich anhalten und irgendwo etwas zu trinken besorgen können, doch die verhältnismäßige Nähe des Ziels ließ mich stur weiter in die Pedale treten. Diesen Fehler hatte ich schon früher hin und wieder begangen und er hatte jedesmal wieder anfänglich phänomenal schöne Erlebnisse zu Durchhaltetrainingseinheiten mutieren lassen. So auch an diesem Mittwochnachmittag.
Doch auch Sturheit führt hin und wieder ans Ziel - und so erreichte ich gegen 17 Uhr Neudorf im Weinviertel. Nach dem Auftanken von Flüssigkeit, einer Dusche und dem gegenseitigen Auf-den-neuesten-Stand-Bringen klang der Abend sehr nahrhaft aus: Mario war - beziehungsweise ist - ein Meister der Grillzange und des Kochlöffels. Köstlich marinierte gegrillte Hühnerbeine, auf dem Grill gebackenes Brot und erfrischender Salat in Kombination mit einer (nicht exzessiven) Menge tschechischen Bieres mundeten auch nach Einbruch der Dunkelheit noch. Ein klassischer Männerabend halt.
Auch den nächsten Tag verbrachten wir (neben Marios Homeofficetätigkeit) mit dem Nachdenken über eventuelle gemeinsame zukünftige Projekte, sodass der zweite Abend bald da war. Diesen nutzten wir erneut für ein wenig Gemütlichkeit: Auch Neudorf liegt sehr grenznah und dementsprechend waren wir in wenigen Minuten in Tschechien. In Nový Přerov (auf Deutsch Neu Prerau) zeigte mir Mario Jáňův dvůr, ein sehr, sehr gelungenes Lokal. Der Innenhof eines alten Bauernhauses war - stilgerecht restauriert - zu einem urgemütlichen Gastgarten umfunktioniert worden. Selbstgemachtes und Regionales kann dort ganz entspannt verkostet werden, es gibt Fremdenzimmer, hinter dem Haus besteht die Möglichkeit zu zelten, es werden Reitkurse abgehalten und und und. Ein Konzept, das auf Unkompliziertheit fußt und wohl gerade deshalb viel Erfolg hat: Das Haus war voller Gäste.
Der ideale Ort, um einen Sommertag weißweinphilosophisch ausklingen zu lassen.
Der Freitagmorgen kam also mit Riesenschritten. Die Rückreise wollte ich bewusst anders gestalten als die Anfahrt zwei Tage zuvor: Nicht die direkteste Route sollte es werden, ich wollte auch einige Highlights auf und abseits der Strecke "mitnehmen". So stand etwa Retz mit seinem malerischen Hauptplatz auf dem Programm, ebenso die berühmte Windmühle und einige andere Sehenswürdigkeiten, die nicht allzu weit vom Weg lägen. Die Leserin und der Leser ahnen es bereits: An einem hochsommerlichen letzten Julitag, bei 30 Grad Celsius im Schatten, einem sehr massiven Rad mit vollen Packtaschen und leichten Nachwehen des Vorabends konnte so ein Plan durchaus die eine oder andere Herausforderung bergen. Und das tat er auch, nicht nur aufgrund der Nervenenden im Gesäß, die noch von den letzten 120 Kilometern leicht beleidigt waren.
Der erste Streckenabschnitt war derselbe wie der Abschluss der Anreise: flach, heiß und unspektakulär. Blühende Kürbisfelder, Disteln am Bahndamm, Lavendel und Weingärten bestimmten die ersten Eindrücke des Tages.
Diesmal allerdings siegte die Vernunft und ich sorgte vor: Gar nicht einmal so widerwillig blieb ich tatsächlich unterwegs bei einem Supermarkt stehen und kaufte ein.
Eine Banane, Kakao und ein isotonischer Durstlöscher (nein, kein Dosenbier!) sollten meinen Blutzuckerspiegel während des Vormittags in erträglichen Höhen halten. Das funktionierte so gut, dass auch der erste nennenswerte Anstieg bei Retz trotz kurzem Verfahren und teilweise eher mountainbikeüblichen Wegbedingungen (siehe nebenstehendes Bild) noch locker bewältigt wurde. Auch kam ich an diesem Tag dadurch mit meiner Flüssigkeitszufuhr deutlich besser über die Runden.
Scheinbar bin ich ja doch lernfähig - wenn auch manchmal nur durch kurz zuvor erlittene Leiden. Besser als gar nicht.
Weiterhin ließ sich kaum ein Wölkchen am strahlend blauen Himmel blicken, meine Stimmung und mein körperlicher Zustand waren hervorragend, alles war so, wie ich mir das ausgemalt hatte. Mit etwas mehr als 50 gefahrenen Kilometern in ziemlich flachem Terrain hatte ich bis dahin ja auch noch keine herausfordernde Leistung erbringen müssen.
Dass direkt hinter Retz ein deutlicher Anstieg folgte, der mir in einem Rutsch auf einer Strecke von fünf Kilometern 200 Höhenmeter Aufstieg bescherte, war also noch ganz gut wegzustecken. Interessant fand ich auch, dass man dadurch deutlich eine Änderung der Vegetation wahrnehmen konnte. Ab einer gewissen Höhe wähnte ich mich plötzlich ins Waldviertel katapultiert - obwohl mir durchaus bewusst war, dass ich noch im Weinviertel unterwegs war (siehe Bild links).
Die abschließenden 100 Downhill-Höhenmeter machten durch den kühlenden Fahrtwind ein wenig der vorangegangenen Anstrengungen wett.
Immerhin wollte ich wieder hinunter, mein nächstes Ziel lag deutlich tiefer: Pulkau.
Das entzückende Städtchen hatte an diesem Tag fast etwas Mediterranes, in den Gastgärten saßen offensichtlich gut gelaunte Menschen, altehrwürdige Gebäude atmeten den kühlen Hauch der Geschichte und über allem lag die wärmende Sonne des letzten Julitages. Der Abstecher hatte sich ausgezahlt.
Dass hinter Pulkau ein langer, zäher Aufstieg von weiteren 180 Höhenmetern auf mich wartete, war der weniger angenehme Teil an der Sache. Langsam begann ich die gepäcklosen Rennradfahrer zu beneiden, die an diesem Tag vorzugsweise in die Gegenrichtung - also bergab - unterwegs waren. Doch egal, ich sah es sportlich.
Immerhin war ich mehr als bereit, mir unterwegs die eine oder andere Einkaufspause zu gönnen. Die zusätzliche Flüssigkeit und das Gefühl, ausreichend Treibstoff in der Blutbahn zu haben, war durchaus aufbauend. Ich wusste: Nach der Steigung wartete der Ort Sigmundsherberg auf mich - der mit einem immer wieder am Straßenrand beworbenen Supermarkt aufwarten konnte.
Eine Oase in der grünen und schon ziemlich hügeligen Wüste des westlichen Weinviertels.
Guter Dinge rollte ich also nach bewältigter Steigung durch eben jenes Sigmundsherberg, hielt vor dem tatsächlich existierenden Supermarkt, kramte Geldbörse und Schlauchtuch (meine Alternative zur Mund-Nasen-Schutzmaske) hervor und startete wohlgemut Richtung Eingang des Geschäfts. Als dieser nicht aufging, sagte mir ein kurzer Blick auf den Aufkleber mit den Öffnungszeiten auch warum. Es war Mittagspause. Und zwar noch bis 16 Uhr. Etwa eine Stunde hätte ich warten müssen.
Das gegenüberliegende Freibad machte mir die Entscheidung nicht einfacher. Ich wusste allerdings: Läge ich kühl geduscht und vielleicht nach einer entspannenden Schwimmrunde im Becken dort mit einem Eis auf der Wiese, müsste ich mir wohl im Ort ein Nachtquartier suchen. Eine Fortsetzung der Heimfahrt wäre, nun ja, schwierig.
Langer Rede kurzer Sinn: Geld und Tuch wurden wieder verstaut, der mittlerweile konstant schmerzende Hintern auf den Fahrradsattel gehievt und dann ging es gen Norden. Ich wollte das Weinviertel hinter mir lassen und wusste: Eventuell konnte ich (wenn ich schnell genug war) in Geras ein offenes Geschäft finden. Großes Stift, Touristen, Kulturevents, dort musste es einfach zumindest einen kleinen Nahversorger geben. Dass dazwischen ein scheinbar nicht enden wollendes Auf und Ab lag, das mich von 400 auf 500 Meter Seehöhe und wieder zurück führte, sei nur nebenbei bemerkt. Die Blutzuckerreserven schwanden merklich, der Schweiß in meinen Augen und die Druckstellen am Allerwertesten taten das Ihre: Der Spaß an der Sache sank. Merklich.
Und tatsächlich, als ich schon ziemlich ausgepowert durch den Ort rollte, bemerkte ich: Direkt neben dem Stift lag ein kleiner Supermarkt. Momentan geschlossen. Voraussichtliche Wiedereröffnung im September. Nein, ich dachte diesmal nicht darüber nach zu warten. Dann halt auf nach Raabs an der Thaya. Auch gut. Stand sowieso auf der Agenda.
Und wieder ging es 100 Höhenmeter hinauf, 100 hinunter, 100 hinauf, ...
In Raabs angekommen befahl mir mein Überlebensinstinkt, schnurstracks zum Hauptplatz zu radeln und mich in den Schanigarten eines Gasthauses fallen zu lassen. Dort wurde der Einfluss meines Stammhirns gegenüber der Großhirnrinde übermächtig: Zwei große Cola-Leitung und einen Schokoeisbecher später fühlte ich mich bereit, die letzten 30 Kilometer nach Hause in Angriff zu nehmen. Ich war sogar wieder so keck, dass ich meinem ursprünglichen Plan folgte und nicht die bereits sattsam bekannte Thayarunde, sondern andere lokale Radstrecken (zum Beispiel die Ruinen-Radroute) benutzte.
Landschaftlich war dies eine großartige Sache, auch körperlich war ich wieder halbwegs hergestellt. Allerdings wirklich nur halbwegs: Die bereits zurückgelegten Kilometer - vor allem aber die Höhenmeter - hatten merklich ihre Spuren hinterlassen. Ich verfluchte mittlerweile alle Steigungen und freute mich diebisch über jeden abschüssigen Streckenabschnitt.
Ein netter Spaziergänger, der mir in Puch noch zugerufen hatte: "Da Berg is no a bissl zach, oba daun gehts bis Woadhof nur bergo!", wäre von mir am liebsten geknuddelt worden - hätten wir nicht Covid-19 als virologisches Damoklesschwert über uns hängen gehabt. Und absteigen hätte ich wohl auch müssen. Nein, nicht auf der letzten wirklichen Steigung.
Tatsächlich, er sollte recht behalten. Pyhra und Hollenbach erlebte ich, ohne in ihnen mehr als drei Pedalumdrehungen getätigt haben zu müssen. What a feeling - um mit Irene Cara zu sprechen. Im Licht des Sonnenuntergangs lag Waidhofen an der Thaya vor mir, jener Ort, in dem ich immer wieder per Fahrrad einzukaufen pflegte, jener Ort, der von meiner Haustür gerade einmal zehn Autominuten entfernt lag.
Es war vollbracht. Die letzten paar Kilometer wären flach und wohlvertraut - was gut war, denn die Sonne sank zusehends hinter den Horizont. Trotzdem konnte ich diesen Anblick wirklich genießen, vor allem, da ein einsamer Heißluftballon der Szene noch ein ganz besonderes I-Tüpfelchen verpasste.
Kaum zu glauben, aber nach diesem brütend heißen Tag wurden die letzten Kilometer in den Thaya-Auen tatsächlich recht frisch (und die Insekten lästig). Somit trat ich noch etwas flotter in die Pedale und hatte es nach zirka 170 Kilometern und ungefähr 1500 Höhenmetern tatsächlich geschafft: Ich war zu Hause.
Das Rad wurde in die Garage geschoben und die Packtaschen ausgeräumt. Dann trank ich einen Liter gespritzten Apfelsaft - es gibt manchmal kaum etwas Besseres - und genoss dabei die Abendstille auf den Stufen vor dem Haus. Nach beinahe 300 gar nicht so flachen Streckenkilometern in zwei Tagen hatte ich mir das als erklärter Gelegenheitsradler verdient.
Und die Moral von der Geschicht: Es gibt nix Schöneres als Duschen nicht.
Okay. Das war nur mäßig genial.
Wirklich bemerkenswert ist für mich eher die Tatsache, dass meine Bereitschaft, meine Grenzen auszuloten, nicht abnimmt. Eher im Gegenteil.
Und das beruhigt mich ungemein. Schauen wir, was noch alles kommt. Gute Nacht.