Vor langer, langer Zeit lebte in Wolfsegg eine bösartige, habgierige Frau. Sie stammte aus recht bescheidenen Verhältnissen, konnte im Laufe der Jahre durch mancherlei Betrügereien und Übeltaten aber ein recht beträchtliches Vermögen anhäufen. Sie hatte bereits einige Liebschaften mit verwitweten Bauern hinter sich, die sie durch ihre List um Hab und Gut gebracht hatte.
Ihr letztes Opfer, ein vormals reicher Bauer aus Seyfrieds, nahm sich aus Kummer wegen seines verprassten Vermögens sogar das Leben. Als er Petrus an der Himmelspforte von seinem Schicksal berichtete und diese Nachricht schließlich unseren Herrgott erreicht hatte, beschloss dieser in Wolfsegg nach dem Rechten zu sehen und diese Frau auf die Probe zu stellen.
Es war ein bitterkalter Wintertag, da erfuhr die böse Frau von einem angeblichen Todesfall in der Nachbarortschaft Guttenbrunn. Die Gattin des wohlhabendsten Bauern im Ort sei beim Überqueren des nahegelegenen Haslauerteiches eingebrochen und konnte sich wohl nicht mehr aus dem kalten Wasser befreien. Die Leiche der armen Bäuerin wurde nicht gefunden, aber ein tiefes Loch im Eis ließ an ihrem Schicksal keine Zweifel.
Im Wissen, dass es an diesem Hof keine Nachkommen gab, machte sich die böse Frau auf den Weg, um dem zurückgebliebenen Ehemann ihr Beileid auszusprechen und ihre Möglichkeiten auszuloten, wie sie an das Vermögen des Mannes herankommen könnte.
Knapp vor Guttenbrunn hörte sie jedoch im Dickicht neben der Straße ein klägliches Jammern. Neugierig strich sie durch das mit Reif überzogene Gebüsch und kam dem Wehklagen näher und näher. Sie erschrak, als sie plötzlich unter den gefrorenen Sträuchern den zitternden Körper der vermissten, für tot gehaltenen Bäuerin liegen sah. Viel Leben war nicht mehr in ihrem Leib und eine Rettung der Verunglückten kam der bösen Frau erst gar nicht in den Sinn, wäre doch ihr Plan sonst zunichte.
Mit ein paar raschen Fußbewegungen verdeckte sie die Halbtote mit Schnee und lachte dabei, weil sie nun Gewissheit vom Ableben der Bäuerin hatte. Als sie sich von der Verunglückten abwandte, um ihren Weg nach Guttenbrunn fortzusetzen, krachte es plötzlich aus dem bedeckten Himmel und ein Blitz traf die Böse mit voller Wucht. Sie erstarrte zu Stein.
Rund um sie erwärmte sich der Boden, sodass der Schnee binnen Sekunden zu schmelzen begann. In einem Umkreis von einigen Metern erblühten augenblicklich viele Frühlingsblumen und die verunglückte Bäuerin stand auf und fühlte sieh wie neu geboren.
Später erzählte sie, dass ihr im Dickicht des Waldes der Herrgott erschienen sei und ihr die Geburt von Zwillingen vorhergesagt habe. Diese kamen dann im darauf folgenden Spätsommer zu Welt.
Quelle: www.naturpfad.at
Dies ist eine von mehreren Sagen, die die Entstehung des steinernen Weibes von Wolfsegg zu erklären versuchen. Auch in den anderen geht es um einen Frevel oder um ein Vergehen gegen den göttlichen Willen, gegen kirchliche Gebote - und die Strafe ist jedes Mal die Versteinerung der Übeltäterin. Wohlgemerkt, der Übeltäterin. Es ist nie ein Übeltäter. Da sind sich alle einig.
Einige mehr oder minder deutliche Fotos der unglückseligen Versteinerten hatte ich im Laufe der Zeit in verschiedenen Publikationen oder im Internet gesehen, aber immer wollte ich mir ein eigenes Bild dieses geheimnisvollen Felsblocks machen, der versteckt im Wald neben der Straße zwischen Guttenbrunn und Wolfsegg zu finden sein sollte. Etwa 20 Kilometer wäre die Entfernung zu meinem Haus in Peigarten. Nicht so schlimm. Nahe genug, um der alten Dame einen Besuch auf Schusters Rappen abzustatten und wieder nach Hause zu spazieren. Eine ideale Samstagstour.
Um Punkt acht Uhr morgens schloss ich meine Haustür ab und wanderte los. Das Waldviertel zeigte sich pflichtschuldigst von seiner typisch nebelig-mystischen Seite, gewürzt mit zaghaftem Schneefall, gerade so, als wüsste es um das Ziel meiner Schritte. Sehr brav, liebes Waldviertel, sehr brav. So konnte ich problemlos zum Thema des Artikels passende Fotos schießen.
Während ich so vor mich hinwanderte, kramte ich im Schatzkästchen dessen, was ich mir an kunsthistorischem Wissen im Laufe meiner Schul- und Studienzeit zum Thema primitiver Plastik angesammelt hatte. Allerdings gab es darin nicht allzu viel, das zu diesem Steingebilde passen wollte.
Ist es prähistorisch? Menhire mit angedeuteten Gesichtern, so genannte "Statuenmenhire" gibt es. Sie stammen allesamt aus der späten Stein- oder frühen Bronzezeit. Allerdings sind sie in
Großbritannien, in Italien, in Frankreich oder in Deutschland nachgewiesen. In Österreich nicht.
Ist es frühmittelalterlich? Dann wäre es awarisch oder slawisch, vielleicht ein Grenzzeichen, vielleicht ein religiöses Monument. Allerdings will die ungeschlachte Ausführung des Gesichts nicht
richtig mit den formvollendeten awarischen Artefakten zusammenpassen, die man sonst kennt: feinste Metallverzierungen für Zaumzeug, kunstvolle Gefäße und vieles mehr, nicht weniger geschickt
gearbeitet als moderne Goldschmiedeprodukte.
Ist es ein viel jüngeres Artefakt? Vielleicht ein Scherz gelangweilter Bauernbuben?
Ich war neugierig - neugierig, dem steinernen Weib endlich persönlich gegenüberzustehen.
Doch bis dahin hatte ich noch einige Stunden Fußmarsch vor mir, der mich durch eine Landschaft führte, die eher nach Allerheiligen als nach viertem Adventwochenende aussah.
Etwa um die Mittagszeit erreichte ich Wolfsegg, wanderte durch die Streusiedlung und bog kurz vor der Straße, die Vitis und Heidenreichstein miteinander verbindet, in ein Waldstück ein, in
welchem ich laut den Beschreibungen das steinerne Weib vermutete. Schlagartig war ich vor dem beständigen, ziemlich lästigen Wind geschützt, der mich den gesamten Weg durch Wolfsegg begleitet
hatte. Es war still hier zwischen den Bäumen. Still und ja, ich gebe es zu, ein wenig unheimlich. Ob das mit meiner Erwartung zusammenhing, gleich einem doch veritabel rätselhaften Monument
gegenüberzustehen oder ob der Grund eher die etwas morbide Szenerie toter, von Moos und Flechten überwucherter Baumstämme war, kann ich im Nachhinein nur schwer beurteilen. Ich weiß nur so viel:
Normalerweise fühle ich mich in Wäldern durchaus wohl. Es ist ja nicht so, dass ich nicht des Öfteren in solchen unterwegs wäre.
Als ich mich allerdings genauer umsah, entdeckte ich den offenbaren Grund für mein Unbehagen: Anders als in so manchen anderen Wäldern lag und vor allem stand hier noch eine gar nicht geringe
Anzahl von Restlingen zwischen den Bäumen. Und nein, liebe Leserin und lieber Leser, ich fürchte mich auch nicht vor Steinblöcken. Doch der Effekt, dass im Augenwinkel immer wieder eine etwa
menschengroße Silhouette auftaucht und erst bei bewusstem Hinschauen als Granitblock wahrgenommen wird, kann zumindest eine Zeitlang irritierend wirken.
Einige der Steine zeigten deutliche Bearbeitungsspuren: Man hatte begonnen, sie zu zerteilen, sie zu Baumaterial zu machen. Nichts Außergewöhnliches. Granit war lange Zeit ein beliebter und billiger Baustoff gewesen, günstiger als Ziegel und vor allem quasi vor der Haustür abzubauen. Wo aber war das steinerne Weib? Hatte ich es übersehen? War ich im falschen Waldstück? Ich schlug einen anderen Weg durch das Wäldchen ein und stand regelrecht unvermutet vor einem Felsblock, der nicht großartig anders aussah als die ihn umgebenden - bis auf den Umstand, dass er eindeutig ein Gesicht trug. Nun hatte ich das steinerne Weib von Wolfsegg gefunden. Es war einfach zwischen seinen Artgenossen aufgetaucht, die meine urzeitlichen Instinkte zuvor so gepiesackt hatten. Nein, es war nicht einsam. In früheren Zeiten hatte es wahrscheinlich noch viel mehr Gesellschafter gehabt. Doch viele waren zerschlagen und abtransportiert worden, das war für jeden aufmerksamen Beobachter klar ersichtlich.
Unwahrscheinlich, dass auch jene Blöcke menschenähnlich gestaltet gewesen waren. Man hätte sie - schon allein aus Gründen des Aberglaubens - nicht zerstört. Aberglaube. Was ist das? Ist es etwas anderes als Glaube? Ist es der Glaube, den man überwunden zu haben meint? Der Glaube der Vorväter, vermeintlich als falsch entlarvt und deshalb dämonisiert? Kein Aberglaube ohne Glaube. Das erschien mir logisch. Doch ich schweifte ab.
Um mich wieder auf das Jetzt zu konzentrieren, sah ich mir das Gesicht im Stein näher an.
Tatsächlich, es gab keinen Zweifel: Dies war definitiv keine Laune der Natur, wie ich während des Anwanderns ebenfalls kurz gemutmaßt hatte. Es wäre eine einfache Erklärung gewesen. Und einfach Erklärungen waren nicht immer die schlechtesten. Hier hatte aber eindeutig Menschenhand gewirkt. Vielleicht hatte der Stein bereits eine Form gehabt, die jemanden an ein Gesicht erinnert hatte. Mit einem Meißel hätte er diese dann lediglich verstärken müssen.
Aber wann? Und warum?
Auf meinem Weg hatte ich an diesem Vormittag eine Menge Bildstöcke, Kreuze und Bildbäume gesehen. Wieso versucht der Mensch seit jeher so hartnäckig, die Natur durch Zeugnisse seiner Anwesenheit mitzugestalten? Warum packt er an markante Landschaftspunkte Zeichen seiner Gottheiten? Reicht ihm die Schöpfung als Zeugnis ihres Schöpfers denn nicht?
Nein, er setzt kein Zeichen seiner Verehrung eines Gottes. Der Mensch will sich selbst verewigen.
Er versucht verzweifelt, über die lächerlich kurze Spanne seines Lebens hinaus wirksam zu sein. Und wenn nicht wirksam, dann zumindest in der Erinnerung seiner Nachkommen anwesend. Warum sonst lässt sich der Spender eines Kreuzes oder eines Bildstocks mit Vorliebe auf diesem namentlich verewigen? Wieso wohl graviert man eine Tafel wie folgende?
Wer ihn nicht entziffern kann - der Text lautet: "Zum Andenken an unsere Eltern und Großeltern."
Es liegt mir fern, mich darüber zu mokieren, ganz im Gegenteil: Ich meine, dass eine der menschlichsten Eigenschaften die ist, sich als Teil einer Familie zu sehen, als Teil einer Abfolge von Generationen, als Teil einer Spezies, die sich, aufbauend auf dem Wissen der Vorfahren, weiterentwickeln kann. Das Andenken an Eltern und Großeltern zu bewahren, sich mit ihnen und ihren Gedanken auseinanderzusetzen, ermöglicht erst das intellektuelle und moralische Wachstum der Nachkommen.
Vielleicht setzte aus genau diesem Bedürfnis der Schöpfer des Gesichts am steinernen Weib von Wolfsegg sein Werkzeug an.
Vielleicht wollte er - ohne es artikulieren zu können - die scheinbare Ewigkeit des Steins mit der offensichtlichen Sterblichkeit des Menschen verbinden.
Vielleicht sollte der Felsblock zu einem Symbol seiner Herkunft werden. Zu seiner Mutter. Zu seiner Großmutter.
Falls der Künstler Slawe war (was im nördlichen Waldviertel gar nicht abwegig wäre), dann könnte man das steinerne Weib als sogenannte "Baba" ansehen. In den meisten slawischen Sprachen bezeichnet dieser Ausdruck eine alte Frau oder eine Großmutter, aber auch weibliche Statuen verschieden kunstvoller Ausgestaltung, die im gesamten frühslawischen Siedlungsraum gefunden wurden.
Was unterscheidet diese beiden Statuen, die beide im selben Ort zu bewundern sind? Wenig. Vielleicht die Detailfreude in der Ausführung, nicht aber die Intention des Künstlers: Menschsein, Vorbildsein soll hier verewigt und sichtbar gemacht werden.
Ich, der Mensch, bin hier. Ich, der Mensch, habe etwas zu sagen. Ich, der Mensch, werde sichtbar sein, selbst wenn ich gegangen bin.
So strich ich vor dem Rückweg meiner Baba, meiner Großmutter, noch einmal über die Wange, wie ich es zur Verabschiedung in ihrer letzten Zeit im Krankenbett immer getan hatte. Es war eine gute Gelegenheit, mich an diese unglaubliche Frau zu erinnern, die mein Denken und meine Einstellung zum Leben so maßgeblich mitgeprägt hat.
An sie, die mich gelehrt hat, die Verantwortung für mich selbst und für mein Handeln zu übernehmen, mich zu bilden, über das Leben nachzudenken und immer weiter an mir zu arbeiten.
An sie, das uneheliche Waldviertler Bauernkind, dessen Leben so schwer gewesen ist und dessen Bild so still und dauerhaft wie Granit hinter meinem Denken steht.
Ein Danke an den Künstler, der irgendwann und aus einem ihm vielleicht gar nicht vollkommen verständlichen Grund dem Menschsein ein Gesicht gegeben hat.