Ein gewisser Johann Wolfgang von Goethe legte Mephistopheles, einer der Hauptfiguren seines reichlich schrägen Theaterstücks „Faust. Eine Tragödie“ aus dem Jahre 1808, folgende Worte in den
Mund:
Ganz recht! Ich seh‘ es ebenfalls.
Sie kann das Haupt auch unterm Arme tragen;
Denn Perseus hat‘s ihr abgeschlagen.
Nur immer diese Lust zum Wahn!
Komm doch das Hügelchen heran,
Hier ist‘s so lustig wie im Prater;
Und hat man mir‘s nicht angetan,
So seh‘ ich wahrlich ein Theater.
Stück wie Autor sind heute in breiten Schichten der Bevölkerung vergessen, auch wenn in der bei weitem bekannteren „Fack-ju-Göhte“-Filmreihe auf dezent-augenzwinkernde Art und Weise auf den erwähnten Schriftsteller Bezug genommen wird.
Den Prater allerdings kennt man nicht nur in unserer Bundeshauptstadt nach wie vor. In Wien ist er jener Ort, in den die Kinder im Anschluss an die Erstkommunion geführt werden, um die kurz zuvor genossene Hostie gemeinsam mit einem Langos (oder wahlweise einem Burger) nach drei bis vier Fahrten auf der Hochschau- oder Go-Cart-Bahn in einem Urwiener Initiationsritus den Eltern auf die zu diesem Anlass frisch erworbenen Deichmann-Sneaker zu speien.
Doch das war nicht immer so. Im 19. und selbst noch weit ins 20. Jahrhundert hinein waren die Attraktionen des „Wurstelpraters“ andere als heute. Sie waren auf der einen Seite zwar wohl genauso laut und schrill wie die gegenwärtigen, auf der anderen allerdings düsterer, grausamer:
Felix Salten, der unsterbliche Schöpfer des Buches „Bambi, eine Lebensgeschichte aus dem Walde“, mutmaßlich aber auch von „Josefine Mutzenbacher oder Die Geschichte einer Wienerischen Dirne von ihr selbst erzählt“ gibt uns in seinem Buch „Wurstelprater“ aus dem Jahre 1911 hierin einen kleinen Einblick. Er schildert, wie im dortigen Puppentheater vor einer johlenden Kinderschar der Kasperl mit einem Schmiedehammer nicht nur – zugegeben versehentlich – seine Frau erschlägt, sondern anschließend auch den Totenbeschauer. Sein nächstes Opfer jedoch ist ein jüdischer Händler, dem er die Toten, gut verstaut in einer Kiste, verkaufen möchte. Als dieser jedoch den Preis drücken will, erschlägt Kasperl ihn diesmal vor Zorn auch noch. Doch statt dem Teufel in die Klauen zu fallen, erscheint ein Engel, erteilt dem Mörder seinen Segen und lässt als Belohnung (offenbar für den Mord an dem Juden) Kasperls Frau wieder auferstehen.
Diskussionen über das heutige Kinderprogramm im Fernsehen könnten vor diesem Hintergrund einen deutlich anderen Unterton bekommen.
Doch nicht nur die Theaterdarbietungen ließen es ein wenig an Feinfühligkeit mangeln, auch andere Attraktionen wären heutzutage eher, na ja, ungewöhnlich.
So war es etwa durchaus üblich, Menschen gegen Eintrittsgebühr auszustellen. Zum Beispiel Menschen, die aus weit entfernten Regionen der Erde kamen: Nubier, Senegalesen, Sioux, Samoaner, Beduinen, Thailänder, Japaner und viele mehr. Weiters wurden dort Menschen begafft, deren Körper außerhalb der Norm war, die besonders dick oder dünn, groß oder klein waren. Menschen mit Behinderungen wie fehlenden Gliedmaßen wurden ebenso zur Schau gestellt wie Menschen mit seltenen, das äußere Erscheinungsbild betreffenden Krankheiten.
Das Leben einer dieser Personen soll hier stellvertretend für das Schicksal vieler beleuchtet werden, auch wenn ihre Verbindung zum Prater erst nach ihrem Tod geknüpft worden ist. Es handelt sich um eine junge Frau namens Julia Pastrana.
Sie wurde im Jahr 1834 in Mexiko geboren, wobei man über ihre Jugend kaum etwas sicher weiß. Alle Berichte wirken ein wenig legendenhaft. Gesichert ist allerdings, dass sie schon als Jugendliche in Shows auftrat und auch eine diesbezügliche Ausbildung erhielt. Sie konnte singen, tanzen und beherrschte drei Sprachen.
Doch weniger diese Fertigkeiten lockten das Publikum an, viel eher war es die Erscheinung Julia Pastranas: Sie litt an Hypertrichose, einer auch heute noch existierenden Krankheit, die sich durch außergewöhnlich starken Haarwuchs äußert. Dies kann genetische Ursachen haben, hormonell bedingt sein, aber auch durch Mangelernährung, Medikamentengabe oder Tumorerkrankungen hervorgerufen werden.
In Julia Pastranas Fall lag wahrscheinlich ein Gendefekt vor: Zusätzlich zu dem übermäßigen Haarwuchs erreichte sie nämlich auch nur eine Körpergröße von 138 Zentimetern. Ihre Kieferpartie erschien übermäßig stark entwickelt und angeblich verfügte sie auch über zwei Zahnreihen. Wahrscheinlicher ist aber eine Gingivahyperplasie, was nichts anderes bedeutet als Zahnfleischwucherungen.
Und doch: Auf den von ihr existierenden Fotos blickt sie durchaus selbstbewusst, gelegentlich sogar in tänzerisch-anmutiger Pose in die Kamera. Natürlich waren diese Bilder zu Werbezwecken aufgenommen worden. Mitte des 19. Jahrhunderts war die Fotografie noch nicht im Alltag angekommen, Aufnahmen von einzelnen Personen waren so gut wie immer sorgfältig inszeniert.
Ihr Impresario – heute würde man wohl Produzent dazu sagen –, der Amerikaner Theodore Lent, präsentierte sie dem Publikum als „Affenfrau“ und organisierte Tourneen mit ihr als Attraktion auf mehreren Kontinenten.
Zwar ist nicht gesichert, ob Theodore Lent Julia Pastrana wirklich heiratete, doch bezeichnete er sie als seine Frau. Sie brachte 1860 auf einer Tournee in Moskau ein ebenfalls von Hypertrichose betroffenes Kind zur Welt. Dieses verschied allerdings kurz nach der Geburt und auch seine Mutter überlebte nur mehr wenige Tage. Sie starb sechsundzwanzigjährig nach einem Leben, das nach damaligen wie heutigen Maßstäben mehr als außergewöhnlich und wohl auch recht traurig war.
„Doch was hat das alles mit dem Wiener Prater zu tun?“, fragst du dich jetzt sicher, liebe Leserin und lieber Leser. Um das zu erklären, springen wir am besten aus dem 19. Jahrhundert zurück in die Gegenwart und unternehmen einen kleinen Spaziergang an den Rand des modernen Wurstelpraters. Heute bildet die Ausstellungsstraße die Grenze des hochtechnisierten, lauten und bunten Vergnügungsparkareals zu den nördlich von ihm gelegenen Wohnhäusern. Ganz zu Beginn des Straßenzugs jedoch liegt das grüne Parkareal der Venediger Au, die ursprünglich gemeinsam mit der Kaiserwiese den sogenannten Kaisergarten gebildet hat.
Auf der Höhe dieses Parks standen bis Mitte des 20. Jahrhunderts ebenfalls Gebäude, die zum Wurstelprater gehörten – so auch „Präuschers Panoptikum und anatomisches Museum“. Der Gründer dieses Etablissements, Hermann Präuscher, war Sohn einer deutschen Schaustellerfamilie, wurde selbst Tierbändiger und hatte das Glück, sein Panoptikum im Jahre 1871 an einem sehr begehrten Platz des Praters errichten zu können: nämlich quasi direkt beim damaligen Eingang.
Doch was war dort zu sehen? Kurz zusammengefasst waren das etwa 2000 Wachsfiguren, eine Sammlung von Folterwerkzeugen, ein „mechanisches Kunstkabinett“, ein Irrgarten, ein „Affentheater“ (im Wienerischen ein sprichwörtlicher Begriff) und noch einiges mehr.
Präuscher war dafür bekannt, für sein „anatomisches Museum“ Menschenhäute zu kaufen. Er erwarb sie direkt von den Eigentümern und zahlte gar nicht sooo schlecht: Für seine Haut erhielt man – je nach Zustand – zwischen 10 und 100 Gulden. Grob umgerechnet wären das zwischen 100 und 1000 Euro. 10 Prozent des Kaufpreises erhielt man sofort, die restlichen 90 nach Aushändigung der Ware. Diese erfolgte üblicherweise erst nach dem Ableben des Lieferanten, wobei der Restbetrag dann wohl an die Erben ging.
Der Bereich dieses „anatomischen Museums“ enthielt fast 900 menschliche Körperpräparate diverser krankhafter Veränderungen. Und hier schließt sich der Kreis, denn dort konnte das hochverehrte Publikum auch Julia Pastrana und ihr neugeborenes Kind bewundern.
Doch Moment – waren diese denn nicht bereits 1860, also 11 Jahre vor Eröffnung von Präuschers Panoptikum gestorben?
Ja, waren sie.
Was also war im Jahre 1860 geschehen?
Theodore Lent, Impresario und mutmaßlicher Kindsvater, hatte die tote Julia Pastrana und ihr Neugeborenes kurzerhand präparieren lassen und zuerst in seinem eigenen Museum in Sankt Petersburg und dann angeblich auch an anderen Orten ausgestellt. Die Mutter in einem Kostüm, in dem sie zu Lebzeiten aufgetreten war, das Kind wie ein Papagei neben ihr auf einer Stange stehend. Doch bald schon brauchte Theodore Lent Geld für ein neues, ehrgeiziges Projekt: einen schwimmenden Zirkus auf dem Rhein.
Also verlieh er gegen eine Jahresgebühr von 320 Talern (das kann man grob mit 15 500 Euro umrechnen) die Leichen an Hermann Präuscher, welcher sie – wie schon erwähnt – in seinem Panoptikum im Prater ausstellte. Bald gingen sie komplett in seinen und später in Familienbesitz über.
Und dort blieben sie bis 1921. In jenem Jahr erwarb sie der Norweger Haakon Lund, der sie in einer zirkusähnlichen Wanderschau präsentierte. 1943 wurden sie von der deutschen Besatzungsmacht konfisziert, nach dem Krieg aber erneut öffentlich ausgestellt. Erst 1970 griff die Regierung Norwegens ein, konfiszierte ebenfalls die Leichen und unterband damit die weitere – zumindest öffentliche – Zurschaustellung. 1979 wurden sie gestohlen, aber wiedergefunden und befanden sich anschließend für lange Zeit in Oslo. Dort wurden sie für Forschungs- und Ausbildungszwecke benutzt.
Erst 2013 wurden die mumifizierten Überreste von Julia Pastrana und ihrem Sohn in ihre Heimat Mexiko gebracht, um dort, 153 Jahre nach ihrem Tod, endlich würdevoll bestattet zu werden.
Wer heute über das Areal der Venediger Au spaziert, das längst zu einem Park mit Sportanlagen und Kinderspielplätzen umgebaut ist, gedenkt vielleicht in einem stillen Moment der kleinen Frau aus Mittelamerika, deren Leichnam hier jahrzehntelang zu einem Eintrittspreis von etwa 1,80 Euro von jenen Menschen begafft wurde, in deren Brust das sprichwörtliche goldene Wienerherz schlägt.