Mittlerweile ist Sommer. Nach einer Runde auf meinem Fahrrad sitze ich im Sonnenschein auf dem Hauptplatz des Waldviertler Städtchens Raabs an der Thaya im Schanigarten des Gasthauses Raffetseder.
Meinen Durst stille ich mit einem kalten Getränk und ganz nebenbei komme ich einer meiner Lieblingsbeschäftigungen nach: Ich beobachte Menschen.
Aufgrund des strahlend schönen Wetters tummeln sich hier auch genug Exemplare dieser Spezies. Ich sehe eisschleckende Kinder inklusive wespenverscheuchender Eltern, sonnenanbetende Pensionistinnen und Pensionisten, plaudernde Einheimische und eine Gruppe vorbeiradelnder Touristen. Schräg gegenüber stehen zwei halbwüchsige Burschen neben ihren Mopeds, die mit ihrer überlauten Unterhaltung und weit ausladenden Gesten versuchen, ihre juvenile Unsicherheit zu übertünchen. Ich lächle. Dann lasse ich meinen Blick am Brunnen vorbei zur Burg wandern, die sich hoch über dem Platz wie eine stumme Wächterin auf einer beeindruckenden Felsformation erhebt.
Apropos Burg: Im Mittelalter hieß Raabs nach einem frühen deutschen Grundherrn Ragoz. Die mährischen und böhmischen Nachbarn nannten die Grafschaft deshalb in ihrer Sprache Rakoza, eine Bezeichnung, die sie bald auch für die - von ihnen aus gesehen - hinter der Grafschaft gelegenen Gebiete verwendeten. Dieses Wort wandelte sich im Laufe der Zeit zu Rakousko, der noch heute verwendeten tschechischen Bezeichnung für ganz Österreich.
Und ich weiß: Die Burg über der Thaya ist im Laufe der Jahrhunderte Schauplatz einiger dramatischer Begebenheiten gewesen. Die steingrauen Mauern und die beiden großspurigen Burschen erinnern mich an eine dieser Geschichten.
Reisen wir dafür zurück in einen Frühlingstag des Jahres 1591.
Das Unglück nahm am 4. Mai seinen Lauf. An diesem Tag fuhr Johann Hiezscholt, der Stadtschreiber von Raabs, mit einer Wagenladung Wein und nichts Böses ahnend nach Hause. Er hatte eben die Burg Kollmitz passiert und näherte sich seiner Heimatstadt, als ihn bei Aigen zwei junge Kerle auf Pferden überholten und prompt zu stänkern begannen. Sie machten sich lautstark über den Knebelbart von Hiezscholt lustig. Obwohl diese Barttracht damals eigentlich topaktuell war, dürfte sie sich offenbar im nördlichen Waldviertel noch nicht so großer Beliebtheit erfreut haben.
Der Schreiber allerdings war scheinbar nicht nur ein äußerst modeaffiner Mensch, sondern auch nicht auf den Mund gefallen und schon gab ein Wort das andere. Im Verlauf der Streiterei stellte sich heraus, dass es sich bei den Provokateuren um Bedienstete der Herrschaft Kollmitz handelte. Die Herren von Raabs und die von Kollmitz waren zwar (wie viele Adelsgeschlechter) miteinander verwandt, aber bereits seit längerer Zeit nicht sehr gut aufeinander zu sprechen, da es immer wieder Unstimmigkeiten über Gebietsnutzungen und Jagdreviere gab. Klassische Nachbarschaftsstreitigkeiten unter Adeligen eben. Und auch ihre Untertanen schienen das Spiel nur allzu gern mitzuspielen: Die beiden Reiter begannen also, auch Niklas von Puchheim, den Herrn von Raabs, lautstark zu beschimpfen und galoppierten anschließend davon, ohne den in seinem Raabser Lokalstolz gekränkten Wagenlenker weiter zu beachten.
So rollte dieser also zähneknirschend seiner Heimatstadt entgegen. Gerade einmal einen Kilometer vor Raabs traf er – wie der Zufall so spielte – bei Oberndorf auf zwei Söhne des Burgherrn, Andras und Hartmann, die ihm mit einem Diener auf einem Wagen entgegenkamen. Empört berichtet er den beiden von seinem demütigenden Erlebnis, was die zwei jungen Grafen so erboste, dass sie prompt beschlossen, loszuziehen und sich an den provokanten Kollmitzern zu rächen.
Tatsächlich fanden sie sie auch bald, überwältigten sie kurzerhand, warfen sie gefesselt auf ihren Wagen und brachten sie, ohne groß zu zögern, in das Verlies der väterlichen Burg.
Keine gute Entscheidung. Gar keine gute Entscheidung.
Als ihm der Vorfall zu Ohren kam, verfasste Adam von Hofkirchen, der Besitzer der Burg Kollmitz, ein Schreiben an Niklas von Puchheim, in dem er die sofortige Freilassung seiner beiden Diener verlangte. Umsonst: Aus Raabs kam nicht einmal irgendeine Antwort auf diese Forderung. Adam von Hofkirchen jedoch war im Waldviertel nicht gerade für seine Ausgeglichenheit oder seine besonnene Art, sondern viel eher für seinen Jähzorn und seine Rachsucht bekannt. Diesen Mann demonstrativ zu ignorieren, war ein Spiel mit dem Feuer. Und tatsächlich: Adam von Hofkirchen beschloss, sich mittels einer List an Niklas von Puchheim zu rächen.
Dazu suchte er die Hilfe seines Schwagers Ferdinand von Schönkirchen, seines Zeichens Herr auf Schloss Therasburg in der Nähe von Pulkau. Dieser wiederum heuerte in Wien einige zwielichtige Gesellen an, die den Racheplan ermöglichen sollten.
Ignorieren durfte man einen Adam von Hofkirchen nicht. Nun war Schluss mit lustig.
Am Vormittag des 15. Mai traf ein angeblich herrschaftlicher Lakai mit einer „wichtigen Botschaft“ auf der Burg Raabs ein: Der Abgesandte des Herrn Obriststallmeisters Ottavio Gavriani erlaube sich, seinen allergnädigsten Herrn, den Obristhofmeister Ihrer Majestät, der Königin Elisabeth von Frankreich, nämlich den Grafen Alfonso von Montecuccoli, anzukündigen. Dieser sei auf einer Reise in allerhöchstem Auftrag unterwegs und komme am Abend in Raabs an. Er hoffe, auf der Burg eine standesgemäße Nächtigungsmöglichkeit vorzufinden und danke dafür bereits im Voraus.
Auch damals galt offenbar schon, dass man gar nicht dick genug auftragen konnte, wollte man sein Gegenüber beeindrucken. Am Nachmittag dieses Tages verließen drei prächtige Kutschen – nein, nicht den französischen Hof – sondern Schloss Therasburg und rollten Richtung Norden auf Raabs zu. Der Tag der Rache des Adam von Hofkirchen war gekommen.
Gegen 22 Uhr meldete der Torwärter die Ankunft der drei von bewaffneten Reitern bewachten Wagen. Niklas von Puchheim war erfreut: Der hohe Besuch war endlich eingetroffen, der Abgesandte der französischen Königin beehrte die Burg Raabs mit seiner Anwesenheit! In so einem Fall geziemte es sich für den Schlossherrn durchaus, die Gäste persönlich willkommen zu heißen. Also eilte er, umringt von Dienern mit Laternen in den Händen, pflichtschuldigst in den Vorhof der Burg, wo die Kutschen und Reiter geduldig warteten.
Es musste ein ziemlicher Schock für den aufgeregten Niklas von Puchheim gewesen sein, als statt des Grafen Alfonso von Montecuccoli sein alter Feind Adam von Hofkirchen aus dem Dunkel der Nacht auf ihn zutrat.
"Gibst du mir meine Leute heraus oder nicht!?", schrie der Herr von Kollmitz den Überraschten an. Sofort versuchte Niklas von Puchheim zurück in die Sicherheit seiner Burg zu gelangen. Zu verwundbar, zu ungeschützt war er in dem dunklen Vorhof. Doch es war bereits zu spät: Als er bemerkte, dass er ringsum von entschlossen dreinblickenden Bewaffneten umstellt war, versuchte er mit einem Angebot, Zeit zu gewinnen: "Das lässt sich doch am besten im Schloss besprechen!" "Nein! Gib sie sofort heraus, oder ich werfe dich auf meinen Wagen!", schrie Adam von Hofkirchen. Mit den Worten - "Da bin ich!", sprang Niklas Puchheim jetzt den Eindringling an. Drei Schüsse krachten, dann brach endgültig Chaos aus. Während die Diener sich verzweifelt um den sterbenden Burgherrn kümmerten, wendeten der Kollmitzer und seine Helfer die Wagen, gaben den Pferden die Sporen und flüchteten in die Dunkelheit.
Und plötzlich war das Lustigmachen zweier übermütiger Burschen über den Bart des Raabser Stadtschreibers tödlicher Ernst geworden.
Und die Moral von der Geschicht? – Aus ist sie noch lange nicht.
Aber nicht deswegen, weil nun der große Rachefeldzug der Puchheimer gegen Adam von Hofkirchen gefolgt wäre. Dieser hatte sich mit seinem Schwager sofort nach Polen in Sicherheit gebracht, wo es ihm auch verhältnismäßig egal war, dass ihm in Österreich in Abwesenheit ein Mordprozess gemacht wurde.
Nein, die Raabser reagierten anders: Sie beschlossen, aus der Ermordung ihres Familienoberhauptes politisches Kapital zu schlagen. Wie das? Dazu muss ich an dieser Stelle eine kurze Rückblende einfügen.
Ein Umstand, der bisher in unserer Geschichte noch nicht erwähnt wurde, ist der, dass zu jener Zeit – gelinde ausgedrückt – ziemliche Animositäten zwischen der noch jungen evangelischen und der deutlich älteren katholischen Kirche bestanden. Die Herren von Raabs waren Protestanten. Das war hip, das war cool, das war politisch vorteilhaft. Unter ihren Untertanen allerdings befanden sich doch noch einige wenige, die die liebgewonnenen Prozessionen, die Heiligenverehrung und die auf Latein gehaltenen Messen nicht missen wollten. Ergo blieben sie der katholischen Kirche und ihrem Pfarrer, einem gewissen Anton Stromaier, treu.
Dieser allerdings war – neben dem unliebsamen Nachbarn auf der Burg Kollmitz – der Lieblingsreibebaum des ermordeten Niklas von Puchheim gewesen. Sich jenen Disput jedoch wie die Geschichten um Don Camillo und Peppone vorzustellen, wäre ein grober Denkfehler:
Niklas von Puchheim hatte den Pfarrer laufend gedemütigt, bedroht und verleumdet. Unter anderem hatte er ihn öffentlich bezichtigt, sowohl mit seiner eigenen Schwester als auch seiner Schwägerin zu schlafen. Selbst ohne Berücksichtigung des Zölibats wäre das keine harmlose Anschuldigung gewesen.
Mit insgesamt 22 Beschwerdeschreiben, die der Pfarrer an den Wiener Hof gerichtet hatte, hatte er versucht, sich auf zivilisierte Art und Weise dagegen zur Wehr zu setzen. Das Ergebnis war allerdings weniger zivilisiert gewesen: Der Terror war nämlich noch schlimmer geworden. So war der Pfarrhof wortwörtlich zur beliebten Zielscheibe im Zuge der herrschaftlichen Schießübungen mutiert – und das wohl kaum versehentlich.
Ein weiteres Beispiel, das zwei Jahre vor der Ermordung des Niklas von Puchheim stattgefunden hatte: Als der Pfarrer mit einigen wenigen Gläubigen die Kirche verlassen hatte, um die alljährliche Fronleichnamsprozession zu beginnen, hatte ihnen der Burgherr mit seinen Rittern den Weg verstellt. Gleichzeitig waren etwa 150 bewaffnete Raabser Protestanten auf Anton Stromaier und seine Gemeindemitglieder eingedrungen und hatten sie johlend und schreiend in das Gotteshaus zurückgejagt.
Kleinstadtidylle in der guten alten Zeit.
Warum ich all das erzähle? Ganz einfach.
Noch in derselben Nacht, in der Niklas von Puchheim erschossen worden war, wurde Pfarrer Anton Stromaier aus dem Bett geholt, in der Burg unter Bewachung gestellt – und er wurde wegen Beihilfe zum Mord angeklagt. Die Puchheimer warfen ihm vor, Verräter und Kundschafter für die Aktion des Adam von Hofkirchen gewesen zu sein. Die perfekte Möglichkeit, den lästigen Geistlichen loszuwerden.
Zwei Jahre dauerte der Mordprozess, in dessen Verlauf Anton Stromaier vollständig rehabilitiert wurde. Nichts deutete auf eine Mitarbeit des Pfarrers an dem Überfall hin. Er war eindeutig unschuldig.
Doch so Kleinigkeiten wie eine erwiesene Unschuld zählten in Landadelskreisen des späten 16. Jahrhunderts offenbar wenig. Die Familie des Ermordeten zumindest brachte – vier Jahre nach dem Freispruch von Pfarrer Stromaier – eine Tafel in jenem Hof, in welchem die Bluttat geschehen war, an.
Auf dieser stand, dass Adam von Hofkirchen und Ferdinand von Schönkirchen die Tat vollbracht hätten und zwar "samt ihren Adhaerenten Banditen und andern herrnlos gesind, sonderlich Anthonius Stromair, derselben Zeit Pfarrer allhie, Verraetter und Khundschaffter . . . Dies hat aus schuldig khindlichen gehorsam und lieb Wohlgedachten einem geliebten Herrn Vater seeligen zu ewigen gedachtnuss der wohlgeborne herr h. Georg Ehrenreich v. Puchhaimb Freyh. zu Raabs und Krumb(ach), Erbdrugsas in Österreich sein Elter Sohn aufrichten und machen lassen den Ersten tag July 1597".
Somit hängt bereits über 400 Jahre im Vorhof der Burg Raabs zwischen hübschen Renaissance-Arkaden und einer Sonnenuhr ein wörtlich in Stein gemeißelter Schuldspruch, der jeder Grundlage entbehrt.
Sagt man nicht oft, dass wir vor allem in der Erinnerung der Nachwelt weiterleben? Wenn das so ist, dann steht Anton Stromaier dort bereits jahrhundertelang am Pranger. Viele Generationen konnten die Verleumdung lesen, viele Generationen mögen die Bluttat mit Stromaiers Namen in Verbindung gebracht haben, kaum jemand wird sich die Mühe machen, die Hintergründe jener Gedenktafel zu beleuchten.
Vielleicht kann ja dieser Artikel ein wenig zur Reinwaschung der weißen Weste Anton Stromaiers beitragen.
Wer weiß?