Manche Liebesgeschichten überlebt man nicht. Und zwar aus demselben Grund, aus dem auch so manche klassische Bühnenfigur an das Ende ihres Textes kommt: Selbstmord.
Überleben. Ist es nicht das, was wir alle wollen? Was kann jemanden dazu bringen, sein Leben zu beenden? Ein Irrtum? Oder ist Selbstmord die höchste Form der Aggression, derer wir fähig sind? Zumindest drückte meine Großmutter dies vor vielen Jahren in einem unserer zahlreichen Gespräche so aus. Sie wusste durchaus, wovon sie redete, denn sie war bei der Telefonseelsorge tätig und hatte dementsprechend häufig mit Suizidgefährdeten zu tun.
Welche Komponenten müssen also zusammenkommen, dass wir das Einzige wegwerfen, was wir wirklich besitzen: unser Leben? Betrachten wir einen Selbstmord genauer, der sich vor bald hundert Jahren in einem Raum der malerischen Burg oberhalb des Städtchens Raabs an der Thaya zugetragen hat. Einen Selbstmord, der bis heute von zu vielen Fragezeichen bedeckt ist, als dass die Antwort darunter noch zu sehen wäre.
Versuchen können wir es jedoch. Reisen wir also zurück – und zwar in die ersten Junitage des Jahres 1926.
Damals lebte auf der genannten Burg der Baron Hugo Klinger von Klingerstorff. Er war bereits seit 1912 Besitzer der Herrschaft Raabs. Sein Vater, ein äußerst wohlhabender Textilindustrieller aus Nordböhmen, hatte sie für den Sohn gekauft – an die 2000 Hektar Land. Schon zwei Jahre später brach der Erste Weltkrieg aus und Hugo rückte ein. Im Krieg lernte er als Leutnant in einem Lazarett eine freiwillige Pflegerin kennen und lieben. Es war die Gräfin Sybille von Spiegelfeld, Tochter des kaiserlichen Statthalters in Tirol, also hoher Beamtenadel, wenn auch nicht so begütert wie die Familie Klinger von Klingerstorff. Die beiden heirateten 1916 und die zehn Jahre jüngere Sybille zog mit Hugo nach Raabs.
Die Monarchie fand zwar ihr Ende, doch als Großgrundbesitzer änderte das für die Familie Klinger von Klingerstorff nicht allzu viel. 1918, 1920 und 1921 kamen die Kinder Maria Magdalena, Hubert und Albertine zur Welt. Die beiden jüngeren bereits ohne offiziellen Adelstitel, da diese 1919 per Gesetz abgeschafft worden waren. Wer allerdings das Waldviertel kennt, weiß, dass das bis heute nur partiell in den Köpfen der Menschen angekommen ist.
Österreich bleibt Österreich – und irgendwie auch für immer Monarchie.
Die Ehe verlief nun für viele Jahre unauffällig. Man lebte, ohne großes Aufsehen zu erregen, das Leben von Landadeligen. Und man lebte sich offenbar auch auseinander. Er kümmerte sich um die Geschäfte und die Jagd, sie sich um den Rest. Er hatte den Ruf, ein sehr bodenständiger Mann zu sein, sie hatte den Ruf, ein schlechtes Händchen in Geldangelegenheiten zu haben.
Allgemeinplätze. Klischees. Aber nichts Außergewöhnliches. Nichts Dramatisches. Bis zum Jahr 1925.
Dem Anfang vom – tragischen – Ende.
In diesem Jahr erkrankte Sybille Klinger von Klingerstorff an einer Lungenkrankheit. Das Gebot der Stunde war eine Luftveränderung – es ging zur Genesung nach Meran. Und spätestens ab diesem Zeitpunkt widersprechen sich die Berichte. Und zwar in Grundsätzlichem. Dadurch wurden und werden Spekulationen Tür und Tor geöffnet, etwas, das unbestritten zur Legendenbildung beiträgt.
Ich versuche allerdings im Folgenden, die Entwicklung der Dinge möglichst unvoreingenommen darzustellen:
In Meran lernte Sybille – wahrscheinlich noch in Begleitung ihres Mannes Hugo – einen 24-jährigen Russen kennen. Sein Name war Cyrill Orlov, ein weltgewandter junger Mann, gutaussehend, Klavierspieler, Motorradfahrer, angeblich ebenfalls aus adeligem Haus. Wer nun wem nachstellte, wie weit die Beziehung der Baronin zu Orlov ging und wie weit der Baron davon wusste, ist reine Spekulation. Die Quellen gehen diesbezüglich weit – sehr weit – auseinander.
Fakt ist, dass Sybille wieder nach Raabs übersiedelte und dass es am 2. Juni 1926 zu einem Schusswechsel zwischen Cyrill Orlov und Hugo Klinger von Klingerstorff kam, in dem beide von Kugeln getroffen wurden. Aufgrund der dokumentierten Verletzungen kann angenommen werden, dass der Bericht, der damals in der Kronenzeitung erschien, durchaus nah an den tatsächlichen Ereignissen liegt:
Orlov erfuhr, dass der Schlossherr im Walde auf dem Anstand sei. Er ging Klinger nach und traf im Jagdgebiet mit ihm zusammen. Zwischen Hugo Klinger, einem 44-jährigen Mann, und Cyrill Orlov kam es während des Rückweges zum Schlosse zu einer scharfen Auseinandersetzung. Der Schlossherr wollte unmutig davongehen. In diesem Augenblick gab Orlov einen Schuss gegen ihn ab, der zwischen dem Schulterblatt und der Wirbelsäule stecken blieb. Klinger, der durch den Revolverschuss eine schwere, aber nicht lebensgefährliche Verletzung erlitten hatte, wandte sich um. Orlov wollte ein zweites Mal losdrücken. Der Schlossherr legte blitzschnell sein Jagdgewehr an und feuerte gegen den Attentäter, der in den rechten Oberarm getroffen wurde.
Im Anschluss an diese Schießerei wurden die beiden Kontrahenten im Spital in Waidhofen operiert, die Schussverletzungen waren in keinem der beiden Fälle tödlich. Glück im Unglück.
Doch es gab schließlich noch eine weitere Beteiligte – Sybille Klinger von Klingerstorff.
Ihre Reaktion auf die nun folgenden Ereignisse ist das wirklich Dramatische an der Geschichte.
Am Tag darauf, dem Fronleichnamstag, nahmen die Behörden die Arbeit an dem Fall natürlich weiter auf. Um das Geschehen aufklären zu können, wollte man auch Sybille Klinger von Klingerstorff befragen. Also rief man auf Burg Raabs an, um der Schlossherrin mitzuteilen, dass sie sich zur Einvernahme bei der Polizei einzufinden habe. Markus Spiegelfeld, der Vater Sybilles, gab allerdings an, dass seine Tochter zu aufgeregt sei, um zu kommen. Als Polizeibeamte auf der Burg erschienen, um sie zur Einvernahme vorzuführen, nutzte sie einen unbeobachteten Moment, um sich in ihrem Zimmer eine Pistole an die Schläfe zu halten und abzudrücken. Jede ärztliche Hilfe kam zu spät.
Schon zwei Tage später wurde sie im Beisein Hugos, ihrer Familie, der Würdenträger des Ortes und der Freiwilligen Feuerwehr auf dem Raabser Friedhof in Oberndorf zu Grabe getragen.
Soweit die Fakten.
Die Abschlussworte des Kronenzeitungs-Journalisten zu seinem Bericht über den Fall waren äußerst blumige. Fast vermisse ich diesen Stil im heutigen Journalismus. Er täte ihm gut. Oder machte ihn zumindest weniger profan:
Ein Familienleben ist zerstört. Ein Schuldiger liegt schwerverletzt auf seinem Lager. Die andere, die sühnen musste, ruht unter der Erde, erlöst von der Qual der Gewissensbisse, sie ruht aus von den Stürmen, die ihre Seele in den letzten Tagen ihres Daseins durchtobten. Der, dem das Geschick das Leben geschenkt, hisste die schwarze Fahne zum Zeichen der Trauer um seine tote Gattin, zum Zeichen der Trauer um sein zerstörtes Heim.
Zehn Tage nach Sybilles Beisetzung verstarb auch Cyrill Orlov. Allerdings nicht an der Schussverletzung, sondern an einer Lungenentzündung, die er sich offenbar im Krankenhaus von Waidhofen eingefangen hatte.
Das Einzige, was ich mit Bestimmtheit weiß, ist, dass man heute unweit der Ruine Kollmitz das Klinger-Mausoleum findet, ein schlichtes, in neugotischem Stil gehaltenes Gebäude, das Hugo Klinger von Klingerstorff für Sybille an ihrem Lieblingsplatz, dem Uhufelsen über der Thaya, hat errichten lassen.
Ihr Leichnam wurde am 28. Oktober 1928 von Raabs dorthin überführt und beigesetzt. Bis in die Gegenwart werden in diesem Mausoleum Familienangehörige bestattet – zuletzt die Schwiegertochter von Hugo und Sybille am 25. Juni 2020.
Wie auf den Fotos ersichtlich ist, ist der Blick von jener Anhöhe über das Thayatal und die sanfte Hügellandschaft dahinter bis heute äußerst idyllisch. Vor allem in den frühen Morgen- oder späten Abendstunden geht von dem Ort eine sanfte Traurigkeit aus, die aber vielleicht auch nur dem Wissen um die Geschichte des Gebäudes geschuldet ist.
Um es zu finden, folgt man vom Kollmitzdörfl einfach den Holztafeln mit der Aufschrift „Mausoleum“. Das Rätsel um die Ereignisse im Juni 1926 wird man dabei aber wohl nicht lüften.
Das ist auf dem Felsen oberhalb der Thaya ebenso gut gehütet wie die sterblichen Überreste der Familie Klinger von Klingerstorff.