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Der Einzelfall

Und wieder einmal strawanze ich durch Wien. Durch das Wien, dessen verborgene Seiten ich schon als Gymnasiast zu erkunden versucht habe. Durch das Wien, das wie jede europäische Stadt so voller dunkler Geschichten ist, dass es mich immer wieder verwundert, dass das Sonnenlicht zwischen den altersgrauen Häusern bis zu den Straßen vordringen kann.

Als ich über den Lobkowitzplatz schlendere, stelle ich merkwürdig berührt fest, dass er von einer Baustelle regelrecht zerfleischt ist. Zerfleischt passt übrigens gut, immerhin war dieser Platz einst nicht nur der Schweinemarkt Wiens, sondern auch eine Hinrichtungsstätte, auf der Enthauptungen durchgeführt wurden. Warum das? Nun, aus rein praktischen Überlegungen. Ohne verlässliche Kühlmöglichkeit wurden die Schweine hier lebendig zum Kauf angeboten. War man sich handelseinig geworden, wurden die Tiere bei Bedarf aber auch an Ort und Stelle geschlachtet und zerteilt. Dadurch, dass der Platz ohnehin blutgetränkt und regelmäßig gut besucht war, bot er sich als Hinrichtungsstätte geradezu an. Eine Vielzahl von Geschichten kommt mir so in den Sinn. Geschichten, die sich in unmittelbarer Nähe abgespielt haben. So wie die von Erzsébet Báthory, der Blutgräfin. Ich habe in Episode sechs dieses Podcasts bereits ausführlich über sie berichtet. Geschichten also, von denen ich bereits erzählt habe, aber auch eine, mit der ich mich noch nicht näher befasst habe.

Sie drängt sich deswegen auf, da sie mit dem Gebäude gegenüber meines Standorts zu tun hat. Man kann dort Antiquitäten und Kunst erwerben, außerdem sind eine Zeitung, eine Versicherung, ein Meinungsforschungsinstitut und noch viel mehr in dem Nachfolger eines Gebäudes untergebracht, das einst das Wiener Bürgerspital gewesen ist.

Ein Ort, der an das Schicksal der Elsa Plainacher erinnert, die eigentlich Elisabeth hieß, die eigentlich keine Hexe war, aber als solche verbrannt wurde.

Sollte dir das zu verwirrend sein, liebe Leserin oder lieber Leser, dann lies diesen Artikel bis zum Ende. Anschließend verstehst du es sicher bestens. Leider.

Der Lobkowitzplatz mit dem Gebäude, das an der Stelle des ehemaligen Bürgerspitals steht
Der Lobkowitzplatz mit dem Gebäude, das an der Stelle des ehemaligen Bürgerspitals steht

Wer war jene Elsa Plainacher? Wo kam sie her? Wieso war sie in den Ruf gekommen, eine Hexe zu sein? Beginnen wir ganz von vorn, mit ihrer Geburt.

Elsa, was (wie erwähnt) wahrscheinlich nur eine Kurzform von Elisabeth ist, wurde etwa im Jahr 1513 in Pielamund bei Melk geboren. Der Name Pielamund bedeutet nichts anderes als „Mündung der Pielach“ und genau dort lag dieser Ort auch. Er existiert heute nicht mehr, lediglich die Pielamunder Allee erinnert an ihn. Etwa dort, wo heute die Autos auf der Wachauer Straße über den Fluss donnern, betrieben ihre Eltern, sie hießen Holtzgassner, eine Mühle am Ufer der Pielach.

Elsa hatte sehr jung ein uneheliches Kind von einem der Mühlenarbeiter. Da das Kind aber in den Berichten über sie später nie mehr erwähnt wird, dürfte es – wie damals nicht unüblich – schon sehr früh gestorben sein, unter Umständen noch als Säugling. Immerhin lag die Kindersterblichkeit zu dieser Zeit bei etwa 40 Prozent.

Elsa heiratete dann einen Müller namens Paumgartner. Mit ihm hatte sie mindestens zwei Kinder: Achatius, der später die Mühle seines Vaters übernahm und auf diese Weise durchaus wohlhabend wurde, und eine Tochter namens Margareth. Viel weiß man über den Vater der beiden nicht, allerdings kann man annehmen, dass er ebenfalls bald starb. Warum man das annehmen kann? Nun, Scheidungen waren im 16. Jahrhundert und in jenen Kreisen kaum üblich, Elsa heiratete aber ein zweites Mal und zwar einen Kleinhäusler namens Plainacher. Dieser bewirtschaftete in herrschaftlichem Auftrag einen Hof, mit ziemlicher Sicherheit den heute noch existierenden Gschwendthof in der Gemeinde Rammersdorf unweit von St. Pölten.

Elsa war noch keine 40 Jahre alt, als ihre Tochter Margareth etwa 1550 einen gewissen Georg Schlutterbauer heiratete, einen Bauern aus Strannersdorf in der Gemeinde Mank. Ein freudiges Ereignis, sollte man meinen. Und zuerst sah es auch danach aus.

Das junge Paar bekam vorerst drei Kinder, Catharina, Ursula und Hensel. Erst ein Jahrzehnt später kam das vierte Kind, Anna, auf die Welt. Doch Margareth starb noch im Kindbett. Vor ihrem Tod musste Elsa, also die Großmutter des Mädchens, ihr versprechen, sich um die kleine Anna zu kümmern, was diese auch tat. Doch warum? Das Kind hatte doch einen Vater. Ja, hatte es. Doch Georg Schlutterbauer war im Laufe der Zeit immer mehr dem Alkohol verfallen und neigte zur Gewalttätigkeit gegenüber seiner Familie. Margareth wollte offensichtlich ihre Jüngste auf diese Art schützen. Den älteren Kindern billigte sie wahrscheinlich höhere Überlebenschancen zu. Zu Unrecht: Catharina, Ursula und Hensel starben alle im gleichen Jahr angeblich immer in der Nacht in ihren Betten. Dass hier allerdings häusliche Gewalt durch einen alkoholkranken Vater im Spiel war, liegt (zumindest für mich) auf der Hand. Das einzige überlebende Kind war also Anna, die ja bei ihrer Großmutter lebte. Bei ihrer alleinstehenden Großmutter, denn auch deren zweiter Mann, der Kleinhäusler Plainacher, war mittlerweile verstorben.

Genau das, nämlich der Umstand, dass seine Schwiegermutter die alleinige Obsorge über seine Tochter hatte, war Georg Schlutterbauer ein Dorn im Auge.

Ein Dorn, den er beseitigen wollte.

Mit allen Mitteln.

War es die ehrliche Sorge eines Vaters um sein letztes verbliebenes Kind oder doch lediglich rasende Eifersucht? Vielleicht aber hatte Georg Schlutterbauer es auch ganz einfach auf den Hof der Elsa Plainacher abgesehen. Seine Beweggründe gehen aus den Aufzeichnungen natürlich nicht hervor, die weitere Vorgehensweise allerdings sehr wohl. Schlutterbauer begann damit, seine protestantische Schwiegermutter als Hexe zu verleumden. Zur Zeit der Gegenreformation ein erfolgversprechender Schachzug. Er gab an, dass sie ihm sein einziges Kind nicht zurückgebe und es unter den Einfluss von Dämonen oder sogar dem Teufel selbst bringe. Das wirkte durchaus glaubwürdig, denn die mittlerweile etwa fünfzehnjährige Anna litt immer wieder unter Krampfanfällen. Was man heutzutage wahrscheinlich als Epilepsie diagnostizieren würde, war damals ein starkes Zeichen für Besessenheit. Und schuld daran war natürlich ihre Großmutter, Elsa Plainacher. Immerhin besuchte sie mit Anna ja nur protestantische Gottesdienste, keine katholischen. Da der Vater des Mädchens weiterhin darauf bestand, dass seine Schwiegermutter eine Hexe sei, wurde bei Annas Vernehmung gezielt in diese Richtung gefragt. Ob diese tatsächlich, wie in den Quellen angegeben ist, schwachsinnig war oder nur krank und im Angesicht der Obrigkeit verschüchtert, kann heute schwer festgestellt werden. Auf alle Fälle wurde ihr attestiert, tatsächlich vom Teufel besessen zu sein. Darüber hinaus brachte Anna offenbar bei den Verhören vieles durcheinander und so konnten ihre Aussagen leicht im Sinne der Anklage ausgelegt werden. Zum Beispiel gab sie an, beobachtet zu haben, dass ihre Großmutter im Stall Schlangen mit Milch gefüttert habe. Milch stellten die Bäuerinnen aber gern für die Katzen des Hofs in den Stall. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich Schlangen, die als wechselwarme Tiere auf höhere Temperaturen angewiesen sind, bei Schlechtwetter dorthin verirrt haben könnten. Das Mädchen erzählte auch von einem dunklen, zotteligen Mann, den ihr die Großmutter mit den Worten „Annele, willst ihn haben?“ vorgestellt habe. Aus heutiger Sicht ist es deutlich wahrscheinlicher, dass es sich wohl um einen nicht allzu attraktiven Brautwerber gehandelt haben dürfte, weniger um den Teufel persönlich.

 

Anschließend an die Verhöre sollten Anna die in ihr wohnenden Dämonen ausgetrieben werden. Doch sowohl der Exorzismus in Sankt Pölten als auch der in Mariazell und der in Wien blieben erfolglos: Die Krampfanfälle verschwanden nicht. Das ist nicht weiter überraschend. Selbst die katholische Kirche wird heute bei Epilepsie Medikamenten höhere Wirksamkeit als Gebeten zusprechen. Hoffe ich zumindest.

Im wahrsten Sinne des Wortes am Ende ihres Lateins angekommen, attestierten die damit befassten kirchlichen und weltlichen Stellen dem Mädchen in Ermangelung einer besseren Diagnose Schwachsinnigkeit und ließen es ins Wiener Bürgerspital überstellen.

Doch für Georg Schlutterbauer war damit die Sache noch längst nicht vom Tisch. Weder hatte er auf diese Art und Weise seine Tochter noch den Hof seiner Schwiegermutter bekommen. So schnell wollte er nicht aufgeben.

Elsa Plainachers Schwiegersohn bestand also weiterhin auf seinen Anschuldigungen. Doch dieses Anschwärzen war gar nicht mehr notwendig, die Sache hatte sich bereits verselbständigt und begann immer höhere Wellen zu schlagen.

Traurigerweise hatte Fall der angeblichen Besessenheit Annas schon so viel Aufsehen erregt, dass nicht nur das – bekanntlich bis heute nicht in allen Themen sehr wissenschaftsaffine – Volk den Tod der „Hexe“ forderte, sondern auch höchste weltliche und kirchliche Würdenträger auf den Plan traten. So beauftragte Erzherzog Ernst im Mai 1583 Bischof Johann Caspar Neubeck, sich um die "Wiederbringung der armen Seele" zu kümmern. Mit dem erwähnten Bischof sowie Kardinal Melchior Khlesl und dem Hofprediger Georg Scherer nahmen sich die höchsten verfügbaren Kirchenmänner des Falles an. Nach der Untersuchung Annas bestand nach Meinung des Bischofs tatsächlich Hoffnung auf Heilung, immerhin hätte sie selbst keine schweren Sünden begangen. Darum empfahl Neubeck, vor dem Exorzismus zunächst die Verursacherin festzunehmen. Und zwar unter allen Auflagen, die bei der Festnahme einer Hexe zu beachten seien. Immerhin war klar: Wer mit dem Teufel im Bunde ist, ist nicht nur höchst gefährlich, sondern kann sich auch unsichtbar machen und so leicht entkommen. Also, sicher ist sicher. Das kam einer Vorverurteilung gleich. Elsa Plainacher hatte ab da keine Chance, aus der Sache unbeschadet herauszukommen.

Vorgeworfen wurden ihr die Schädigung ihrer Enkelin durch Zauberei und Giftmorde an ihrem Mann und an Annas älteren Geschwistern. Eine Verurteilung hätte so praktischerweise Georg Schlutterbauer von jeglichem Verdacht, seinen Kindern etwas angetan zu haben, reingewaschen. Doch die Ärzte und Priester, die Elsa Plainacher anfangs befragten, stellten nur fest, dass die Frau „alt und bei schwachem Verstand“ sei. Der Wiener Stadtrichter, Oswald Hüttendorfer, plädierte also dafür, sie ebenso wie ihre Enkelin Anna in das Wiener Bürgerspital einzuweisen. Auf jene Art und Weise wären die beiden Frauen versorgt, man müsste sich nicht weiter mit den Familienstreitigkeiten dieser Landeier befassen und es wäre keinem etwas Ernsthaftes passiert.

Beinah ein Happy End. Aber eben nur beinah.

Die Empfehlung von Stadtrichter Hüttendorfer hatte nämlich kaum Gewicht. Immerhin hatten Bischof Neubeck, Kardinal Khlesl und Hofprediger Scherer im Auftrag des Erzherzogs bereits klargestellt, dass die alte Frau eine Hexe sei. Eine offen protestantische Hexe. Hier bot sich die perfekte Gelegenheit, die Überlegenheit der katholischen Kirche über die evangelische zu demonstrieren. 

Die PR-Aktion begann damit, dass der bereits erwähnte Georg Scherer vor dem Stephansdom eine Brandrede gegen Hexen und im Speziellen gegen Elsa Plainacher hielt. Mit dieser Ansprache brachte er das Volk derart auf die Barrikaden, dass es die Folterung geradezu verlangte. Der nächste Schritt war, dass dem Stadtrichter am 31. Juli 1583 von Kaiser Rudolf II persönlich befohlen wurde, im Prozess die peinliche Befragung zur Wahrheitsfindung anwenden. Es war klar: Die alte Frau würde unter den Misshandlungen bald zusammenbrechen und alles gestehen, was man hören wollte. Zuerst verneinte Elsa Plainacher noch hartnäckig, eine Hexe zu sein. Doch schon bald führten die Folterungen in Kombination mit der Kerkerhaft zum gewünschten Erfolg:

Um ihre Leiden abzukürzen, gestand die Frau alles, was man ihr in den Mund legte, und zwar das übliche Best-Of der Hexerei: Geschlechtsverkehr mit dem Teufel, Wetterzauber, Hostienschändung und Besuch des Hexensabbats auf dem Ötscher. Zusätzlich dazu habe sie ihre Enkelin Anna dem Bösen mit Leib und Seele übergeben.

Nun konnte die nächste Phase der Aktion stattfinden:

Am 14. August wurde – wiederum vor einer riesigen Zuschauermenge – der Exorzismus an Anna durchgeführt. Diesmal selbstredend erfolgreich. 12.562 Dämonen konnten ihr so angeblich auf einen Schlag ausgetrieben werden. Ein fulminanter Erfolg der Exorzisten und der nicht zu leugnende Beweis für den erfolgreichen Kampf der katholischen Kirche gegen das Heer der Hölle. Pater Georg Scherer gab schließlich zu bedenken, dass Protestanten keine Teufel austreiben könnten. Ein weiteres Indiz, dass nur die katholische Kirche das wahre Christentum repräsentierte und so das Böse bekämpfen konnte. Dass die evangelische Hexe auf den Scheiterhaufen musste, war für ihn die logische Konsequenz aus dem Fall.

Damit war Phase drei der gegenreformatorischen Show eingeleitet: die Hinrichtung der Elsa Plainacher. Das Urteil lautete trocken:

„Sie soll an die gewonlich Richtstadt, auf die Gennsswaydt geschlaipfft werden, volgendts daselbss lebendig mit dem Feuer zue Pulfer gebrandt.“

Ein vorheriges Erdrosseln, wie es in manchen Fällen üblich war, war dem Scharfrichter somit dezidiert untersagt. Elsa Plainacher sollte den Flammentod möglichst bei Bewusstsein erleiden.

Am 27. September 1583 wurde dieses Urteil vollstreckt. Elsa Plainacher, gezeichnet von Folter und Kerkerhaft, wurde auf ein Brett gebunden, das von einem Pferd auf die Gänseweide im heutigen dritten Gemeindebezirk geschleift wurde. Dort verbrannte man sie lebendig auf dem Scheiterhaufen und streute ihre Asche anschließend in jenen Arm der Donau, den man heute den Donaukanal nennt.

Die Wiener Postgasse. Dort befand sich einst das Kloster St. Laurenz, in das Anna nach dem Tod ihrer Großmutter gebracht wurde.
Die Wiener Postgasse. Dort befand sich einst das Kloster St. Laurenz, in das Anna nach dem Tod ihrer Großmutter gebracht wurde.

Elsa Plainacher war übrigens die einzige in Wien als Hexe verbrannte Frau. Zwar fanden 1601 und 1603 zwei weitere Hexenprozesse daselbst statt, aber beide führten nicht zum planmäßigen feurigen Ende: Eine der beiden Angeklagten nahm sich vorher das Leben und die andere starb unter der Folter, was übrigens alles andere als ein Ruhmesblatt für den Scharfrichter darstellt, der dafür verantwortlich war, dass genau das nicht passierte.

Doch warum musste Elsa Plainacher auf so bestialische Weise ihr Leben lassen? Nun, was als Familienstreitigkeit begann, wurde bald politisch instrumentalisiert. Ihr Prozess und ihr Tod waren eine große Show, deren einziger Zweck darin bestand, den Einfluss der katholischen Kirche und damit auch des katholischen Kaiserhauses Habsburg zu stärken. Und dafür eine alte, unbedeutende Frau aus der provinziellen Wachau zu opfern, kann man sich leisten. Das ist es absolut wert.

 

Was aber passierte mit der nun offiziell als geheilt angesehenen Anna? Die Aufzeichnungen geben wohlweislich keine Auskunft darüber, ob ihre Krampfanfälle nach dem letzten, nun erfolgreichen Exorzismus verschwanden. Ich persönlich bezweifle es. Auf alle Fälle wurde sie in das nur mehr von wenigen Nonnen bewohnte Kloster Sankt Laurenz in der heutigen Postgasse gesteckt. Merkwürdigerweise stellte eine kirchliche Visitation dort schon drei Jahre später skandalöse Zustände fest. Nicht nur hatten die Klosterfrauen Äcker, Weingüter und Silbergefäße verscherbelt, sondern (ich zitiere) „sich mit ungewassertem Wein bezecht, lutherische Bücher gelesen und mit liederlichen Studenten gesungen, gezecht und gespielt“. Und wahrscheinlich nicht nur das.

Ob die vielleicht nach wie vor von einigen der 12.562 Dämonen besessene Anna an diesen Zuständen schuld war? Wer weiß?