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Canterville im Wienerwald

Von der Kurstadt Baden bei Wien werden die einen oder anderen Leserinnen oder Leser unter Umständen schon gehört haben. Vielleicht waren manche sogar schon einmal hier zu Besuch. Oder einer der hier Schmökernden lebt sogar in der Gegend.

Sie hat eine lange Geschichte, diese Stadt. Etwa 5000 Jahre alt sind die ältesten Funde, die auf ihrem Gemeindegebiet gemacht worden sind. Später siedelten keltische Stämme hier. Die Römer nutzten nachweislich die warmen Schwefelquellen und leisteten im Bereich des Weinbaus - ganz uneigennützig - Entwicklungshilfe. Somit wurde schon vor 2000 Jahren der Grundstein für quasi all das gelegt, wofür Baden noch heute bekannt ist: Badekuren und Wein. Nur das Casino gibt es erst seit 1934. Aber das klammere ich jetzt einmal aus. Schon im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, also zur Zeit der Römerherrschaft, erhielt die Ansiedlung den namen „Aquae“. Alle meine Leidensgenossen, die in der Schule genauso viel Spaß mit der lateinischen Sprache gehabt haben wie ich, wissen, dass das von „Aqua“, also „Wasser“, kommt – und der Genitiv Singular, der Dativ Singular, der Nominativ Plural oder der Vokativ Plural sein kann. Am logischsten wäre allerdings der Lokativ Singular. Dieser Fall ist sogar für eine tote Sprache wie Latein eine ziemlich archaische Form und verwandelt ein beliebiges Nomen in eine Ortsbezeichnung. Sehr holprig übersetzt hieße „Aquae“ also nichts anderes als „Am Wasser“ oder „Beim Wasser“. Es ist wahrscheinlicher, dass damit die schon damals beliebten Thermalquellen gemeint sind, weniger das Flüsschen Schwechat, an dem der Ort liegt.

Seit dem 9. Jahrhundert ist der Name Baden in verschiedenen Schreibweisen belegt und im 15. Jahrhundert erhielt der Ort das Stadtrecht.

Unzählige Promis kamen über die Jahrhunderte nach Baden, um sich zu erholen, um unter ihresgleichen zu sein oder sogar, um dauerhaft hier zu leben. Die Habsburger machten es vor, die restliche High Society machte es nach.

Nach dem verheerenden Stadtbrand im Jahr 1812 wurde die Stadt im Biedermeierstil nach Plänen des prominenten Architekten Joseph Kornhäusel neu erbaut und genau 100 Jahre später erhielt sie durch die Eingemeindung einiger benachbarter Ortschaften ihre heute Ausdehnung.

Doch ich schweife schon wieder einmal ab. Immerhin geht es mir in diesem Blogbeitrag nicht um die Badener Stadtgeschichte, sondern um ein Phänomen, das sich in einer Sage um eine Burgruine widerspiegelt. Eine Burgruine auf Badener Stadtgebiet allerdings. Es handelt sich um die Ruine Rauheneck, die malerisch auf einem Vorberg des Lindkogels über dem Eingang des Helenentals thront. Ein perfektes Ausflugsziel. Allerdings eines, das auch mit einer durchaus gespenstischen Sage aufwarten kann.

Carl Calliano hat die erwähnte Sage in seinem Buch „Niederösterreichischer Sagenschatz“ aus dem Jahr 1924 folgendermaßen erzählt:

 

Der Geist auf Rauheneck

Über die Ruine Rauheneck, dem einstigen Schlüssel des hochromantischen Helenentales nächst Baden, lautet eine düstere Volkssage: Oft spukt es in den zerfallenen Mauern dieser in der Geschichte der Ostmark hochbedeutenden Burg. Ein Geist – man weiß nicht, wer und wessen Standes er in seinem irdischen Leben war – ist von dem Schicksale bestimmt, auf den Trümmern umherzuwandeln, und sehnt sich nun, ächzend und klagend, jahrhundertelang nach der Stunde seiner Erlösung, die von einer Eiche, die aus dem Gemäuer des hohen Turmes emporsprosst, abhängt. "Wenn dieses Bäumlein zu einem starken Stamm gediehen, aus diesem eine Wiege verfertigt und das darin gelegene Kind sich mit reinem Herzen dem Priesterstande widmet", so klagt gar oft der Geist, "dann ist die Zeit nahe, wo ich durch dieses erlöst werden kann".

Alle zwölf Stunden schleicht nun seit langen Jahren der arme Geist um den dreieckigen Turm und schaut ängstlich nach seinem Bäumchen, dem allein die Wunderkraft innewohnt, den harten Bann durch eine reine Menschenseele von ihm zu wälzen.

Wie von jeder Sage gibt es natürlich auch von dieser verschiedene Versionen. Manchmal ist es der Geist eines gewissen Turso, der für die Unterdrückung seiner Untertanen und seinen Geiz büßen muss, dann wieder ist es keine Eiche, sondern eine Föhre, die aus der Mauer des Bergfrieds sprießt. Wie auch immer, das Hauptmotiv bleibt gleich: Wer Schuld auf sich geladen hat, muss von jemand Unschuldigem erlöst werden.

 

Da ich eines Tages in der Nähe war, wollte ich natürlich den Schauplatz jener Sage besuchen. Wer weiß, vielleicht kam ich ja gerade rechtzeitig zur laut Sage alle zwölf Stunden stattfindenden Tour des Geistes. Sollte er sich für ein kurzes Interview bereiterklären, wäre das eine perfekte Story für diesen Podcast. Also ab ins Auto und los. Der Burggeist wartete ja nicht ewig. Na ja, eigentlich schon, sollte er nicht irgendwann erlöst werden. Egal.

Der Tag war frühlingshaft sonnig und es waren doch einige Spaziergänger unterwegs. Manche führten ihre Hunde aus, andere ihre Kinder, andere wieder Hunde und Kinder.

Der Weg vom Parkplatz im Tal hinauf zur Ruine war idyllisch und keine Sekunde kam Gruselstimmung auf. Darüber war ich fast traurig, aber da ich nicht allein unterwegs war, konnte ich meiner Enttäuschung nicht freien Lauf lassen. So machte ich gute Miene zum gar nicht so bösen Spiel und plauderte mit meiner Begleiterin über dies und das. Das lenkte von dieser penetrant ununheimlichen Umgebung ab. Vogelgezwitscher und Kinderlachen zerstören bekanntlich auf Dauer jede Bedrohlichkeit. Verdammt. Ja. Genau. Damit war ich gedanklich wieder beim Thema: Wieso war der Geist denn nun verdammt, durch die Überbleibsel der Burg Rauheneck zu wandeln? Falls es sich wirklich um einen ehemaligen Besitzer der Feste handeln sollte, wäre die Begründung, dass dessen Habgier und die Unterdrückung seiner Untertanen schuld an seiner Verdammnis wären, nicht gut haltbar: Die Burgherren waren nämlich dafür bekannt, von ihren Untertanen nur sehr geringe Abgaben und Arbeitsleistung zu verlangen. Ich hoffte noch immer zaghaft auf ein Exklusivinterview mit dem Geist. Vielleicht könnte ich das Rätsel so lösen.

Zwischenzeitlich waren wir bei der Ruine angekommen.

Die Geschichte der Burg Rauheneck ist relativ typisch und außerdem schnell erzählt:

Sie hatte im Mittelalter gemeinsam mit der gegenüberliegenden Burg Rauhenstein und der Burg Scharfeneck den Zweck, die Verkehrsverbindung durch das Helenental, die von Baden bis ins Triestingtal führte, zu sichern. Als erster Herr auf Rauheneck wird um 1130 ein gewisser Hartung von Ruhenekke genannt. Die Familie der Rauhenecker, die sich etwa ab dem Jahr 1200 als Tursen bezeichnete, ließ im 12. und 13. Jahrhundert den Wald unterhalb der Burg urbar machen, woraufhin dort einige Dörfchen entstanden. Ende des 14. Jahrhunderts starb das Geschlecht der Tursen aus und ihre Ländereien gingen an die Familie der Walseer. Wie üblich wurde in den kommenden Jahrhunderten die Burg immer wieder zerstört, wiederaufgebaut, erweitert und den jeweils zeitgemäßen Erfordernissen angepasst. 1477 ließ Ungarnkönig Matthias Corvinus die Burg erstürmen und unbrauchbar machen. Schon damals investierte man wahrscheinlich nicht mehr ernsthaft in ihren Wiederaufbau. Endgültig zerstört wurde Rauheneck – wie einige andere Festungen der Gegend – im Jahr 1529 durch die Türken. Ein Vierteljahrtausend lang schlummerten die Reste der Burg Rauheneck im Wald, bis sie von Privaten erworben und im Jahr 1810 für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Schließlich erwarb die Stadt Baden Anfang der 1960er Jahre die Ruine und ließ sie in den heutigen Zustand bringen.

Und so trafen wir sie an. Saniert, sonnenbeschienen und gut besucht.

Unheimlich? Fehlanzeige.

Na ja, man kann ja nicht alles haben.

So wanderten wir plaudernd durch die Ruine, erstiegen den Bergfried, der – wenn man nach der Menge der Vogelexkremente auf seinen Holzstiegen geht, eine der Lieblingsherbergen der Himmelsbewohner der Gegend ist – und genossen den romantischen Ausblick über das Helenental.

Die Geschichte, dass die bösen Raubritter auf Rauheneck eine Kette zur gegenüberliegenden Burg Rauhenstein gespannt und mit dieser die Händler beim Passieren des Helenentals aufgehalten und ausgeplündert hätten, kann man übrigens getrost ins Reich der Fabeln und Märchen verweisen. Spätestens, wenn man auf dem Turm gestanden ist, wird einem klar, wie unsinnig und technisch undenkbar dieses Vorhaben gewesen wäre. Ganz abgesehen davon, dass der Begriff „Raubritter“ ein moderner ist, der noch dazu eine vollkommen falsche Vorstellung suggeriert. Aber ich schweife schon wieder ab.

Eigentlich ging es mir beim Besuch auf der Ruine ja darum zu ergründen, was es mit der Sage um das Gespenst auf sich hatte. Nach wenigen Augenblicken allerdings war mir klar, dass die ehemalige Burg Rauheneck nur als Kulisse diente. Als Kulisse für eine Geschichte, deren Thema offenbar ein zutiefst menschliches ist. Ich habe es schon erwähnt: Es geht um das Motiv von Schuld und Erlösung. Erlösung durch Unschuld.

Dieses Motiv ist alles andere als selten. Viele Sagen und Mythen weltweit thematisieren jenen Erlösungsgedanken, erzählen ihn auf verschiedene Weise, stellen ihn in verschiedene Zusammenhänge, lassen diese Versuche gelingen oder auch nicht – auf alle Fälle scheint jenes Thema ein uraltes zu sein, das uns Menschen seit Jahrtausenden beschäftigt.

Sogar in die Literatur hat es Eingang gefunden. Als ich die Sage vom Rauhenecker Geist zum ersten Mal hörte, erinnerte sie mich sofort an das Gedicht, das die Erlösung des Gespenstes Sir Simon in Oscar Wildes „The Canterville Ghost“ schildert:

 

When a golden girl can win

Prayer from out the lips of sin,

When the barren almond bears,

And a little child gives away its tears,

Then shall all the house be still

And peace shall come to Canterville.

 

Für alle, denen Englisch spanisch vorkommt, folgt hier die deutsche Übersetzung:

 

Wenn’s eine güldne Maid vollbringt,

Sündenmund zum Beten zwingt,

wenn die tote Mandel sprießt,

Kindes Mitleidsträne fließt,

endlich wird’s im Haus dann still

und Friede wohnt in Canterville.

 

Man merkt: Das Thema Schuld und Erlösung ist ein gern besprochenes. Am besten gehst du, liebe Leserin oder lieber Leser, all die Geschichten durch, die du so kennst. Das können Märchen sein, Sagen, Filme, Theaterstücke, Romane oder, oder, oder. Du wirst merken, dass viele sich mit dem Gedanken auseinandersetzen, wie Schuld getilgt werden kann. Mal als zentrales Thema, mal als Überlegung am Rande der Handlung. Ich bin sicher, dir werden einige Beispiele einfallen.

Eines ist auf alle Fälle die Sage vom Geist auf Rauheneck. Jenem Geist, dem ich bei meinem Besuch leider nicht begegnet bin.

Vielleicht hast du ja mehr Glück.