Außerhalb

 

Es ist ein heißer Julitag. Ein Tag, den vernünftige Menschen zum Baden nutzen. Oder sich im klimatisierten Kino verkriechen. Ich mache keines von beidem. Ich steige aufs Motorrad und lasse mich vom Fahrtwind abkühlen. Vielleicht sogar mit einem Stopp für ein Eis entlang des Wegs, wer weiß? Der Hauptgrund ist wieder einmal meine Neugier. Ich will mir endlich die Zeit nehmen und jenen Teil der Hauptstadt meines Heimatbezirks erkunden, den ich viel zu wenig kenne: Gmünd-Neustadt.

Gesagt, gefahren - los geht es über sommerbaustellenverengte Landstraßen, durch schattenspendende Wälder, vorbei an sonnenhimmelspiegelnden Teichen bis in die mir gut bekannte Altstadt des niederösterreichischen Gmünd. Doch mein Süßigkeitenmagen muss warten. Erst brauche ich Gehirnnahrung. Deshalb stelle ich die BMW am Schubertplatz ab, verstaue Jacke, Helm und Handschuhe im Topcase sowie den Packtaschen und spaziere zum "Haus der Gmünder Zeitgeschichte".

Dabei handelt es sich um ein kleines, aber durchaus ansprechend gestaltetes Museum, das einen Blick auf die Entwicklung der Stadt Gmünd im vergangenen Jahrhundert erlaubt. Ein großer Teil der Ausstellung widmet sich einem Kapitel jener Geschichte, das zwar alles andere als ruhmreich, für die Stadtentwicklung allerdings essenziell gewesen ist: der Errichtung und dem Betrieb eines Flüchtlingslagers während des Ersten Weltkriegs - jenes Themas, das mich neugierig gemacht und an diesen Ort geführt hat.

Als Ausgangspunkt meiner Entdeckungsreise ist das Haus der Gmünder Zeitgeschichte geradezu ideal. Immerhin ist es im bis heute existierenden Gebäude der Auskunftstelle des ehemaligen Lagers untergebracht.

Im Moment, in dem ich durch das Museum schlendere, tobt ein Krieg in der Ukraine. Dadurch sind Menschen auf der Flucht. Auch zu uns nach Österreich. Über 80000 sind es zur Zeit. Menschen, die Angst um ihr und das Leben ihrer Familienangehörigen haben. Menschen, die sich durch den Angriff eines Nachbarstaates auf ihr Territorium ihrer Lebensgrundlage beraubt sehen.

Auch 110 Jahre zuvor flüchteten Menschen aus jenen Gebieten.

Sie taten dies nicht wegen einer feindlichen Armee, sondern wegen der eigenen.

Sie mussten keine Grenzen überschreiten, um in (wenn auch trügerischer) Sicherheit zu sein.

Und doch waren sie Flüchtlinge. Fremde mit fremden Gebräuchen und fremder Sprache für ihre eigenen Landsleute, die ihnen Unterschlupf gewähren sollten. Eine heute schwierig vorstellbare, beinahe rätselhafte Situation.

Was war geschehen? Wer waren diese Menschen?

 

Geflüchtete vor einer der Baracken; Quelle: Haus der Zeitgeschichte
Geflüchtete vor einer der Baracken; Quelle: Haus der Zeitgeschichte

Um das zu verstehen, muss man sich in das Österreich der Habsburger-Monarchie zurückversetzen. Es handelte sich um den flächenmäßig zweit- und bevölkerungsmäßig drittgrößten Staat Europas, ein riesiges Reich, in dem grob ein Dutzend Sprachen gesprochen wurden. Der Erste Weltkrieg war - auch wenn insgesamt etwa 40 Staaten als Alliierte auftraten - im Kern ein Krieg Österreichs gegen Russland, ein Krieg, der dementsprechend auch an der damals existenten österreichisch-russischen Grenze ausgefochten wurde.

Um den Vormarsch des russischen Heeres durch einst österreichische, heute ukrainische Gebiete zu behindern, wurde von den habsburgischen Truppen die Strategie der verbrannten Erde gewählt. Das heißt nichts anderes, als dass die österreichischen Soldaten auf ihrem Rückzug systematisch ganze Ansiedlungen vernichteten, damit sie nicht den Russen in die Hände fallen konnten. Die Bewohnerinnen und Bewohner jener Dörfer und Städte hatten keine Wahl: Wenn sie überleben wollten, mussten sie aus den Grenzgebieten ins Innere Österreichs fliehen. Eine gigantische Flüchtlingswelle war die Folge.

 

Zuerst versuchte man noch, die vom eigenen Heer Vertriebenen auf zahlreiche Gemeinden zu verteilen, doch erreichte der Flüchtlingsstrom bald eine solche Dimension, dass der Staat den Bau großer Barackenlager beschloss, um die Menschen unterbringen zu können. Die Lager mussten verkehrstechnisch gut erreichbar und mit ausreichender Wasserversorgung ausgestattet sein. Doch stießen diese Bauvorhaben in vielen Gemeinden - wie das wahrscheinlich heute auch der Fall wäre - auf strikte Ablehnung.

In mehr als 50 Orten Niederösterreichs konnten jedoch nach Ausübung politischen Drucks der Behörden auf die Kommunen solche Barackenlager errichtet werden. Das größte davon in Gmünd. Chaos schien vorprogrammiert.

Ein früher Plan des Lagers; Quelle: Haus der Zeitgeschichte
Ein früher Plan des Lagers; Quelle: Haus der Zeitgeschichte

Allerdings ging es ab nun durchaus reibungslos Schlag auf Schlag. Bereits Anfang Dezember 1914 waren alle notwendigen Genehmigungen für den Bau des Lagers südwestlich von Gmünd erteilt. Der spätere Stadtbaumeister, Ing. Johann Fürnsinn, leitete die Errichtung der Holzbaracken auf dem dafür vorgesehenen, rund 550 000 Quadratmeter großen Areal. Nicht einmal zwei Monate später konnten die ersten Geflüchteten in die Unterkünfte einziehen. Eine organisatorische Meisterleistung, auch für heutige Verhältnisse. Im darauf folgenden September war das Lager so gut wie fertig. Nun standen etwa 2 500 Einwohnerinnen und Einwohnern 30 000 Geflüchtete gegenüber - für jene Anzahl von Menschen war das Lager nämlich konzipiert.
Allerdings wurde diese Zahl immer wieder überschritten. Insgesamt wurden im Verlauf der Zeit zirka 200 000 Personen im Gmünder Lager untergebracht. Die meisten stammten wie (bereits erwähnt) aus der heutigen Ukraine. Später kamen auch Geflüchtete aus Slowenien und Kroatien dazu.

 

Dadurch bekam die bis dahin vom Krieg - außer in Form von Einberufungen - beinah unberührte Gmünder Bevölkerung eine Andeutung vom Leid der Zivilbevölkerung in den Grenzregionen des Habsburgerreichs. Das war etwas, das naturgemäß in den üblichen Zeitungsmeldungen wenig Niederschlag fand. Diese befassten sich vornehmlich mit Schlachten - und da natürlich am liebsten mit Siegen des österreichischen Heers.

Die Reaktionen der Bevölkerung und der Gemeindepolitik waren ambivalent: Misstrauen und Hilfsbereitschaft, Angst vor Verbrechen und Geschäftsbeziehungen zu Geflüchteten tauchen in zeitgenössischen Berichten auf.

Stickerei im Heimatmuseum von Litschau, die als symptomatisch für die Einstellung der (Land-)Bevölkerung zum Krieg angesehen werden kann.
Stickerei im Heimatmuseum von Litschau, die als symptomatisch für die Einstellung der (Land-)Bevölkerung zum Krieg angesehen werden kann.

Das Lager war mit einer durchaus guten Infrastruktur ausgestattet: Es gab Bildungseinrichtungen für Kinder und Erwachsene, eine Kantine, eine Feuerwehr, einen Polizeiposten, ein Postamt, ein Theater, ein Kino, eine Kirche und vieles mehr.

Dagegen erschienen die ursprünglichen Wohnbaracken merkwürdig primitiv. Es waren Massenunterkünfte, 40 mal 12 Meter große Holzbauten für jeweils 250 Personen, die aufgrund geringer Isolierung schwierig zu heizen waren.

 

Propagandapostkarte von Adolf Hoffmann; Quelle: Österreichische Nationalbibliothek
Propagandapostkarte von Adolf Hoffmann; Quelle: Österreichische Nationalbibliothek

Dies hatte wohl zwei Gründe: die Eile, in der sie bezugsfertig sein mussten, sowie die Ausrichtung auf eine kurze Benützung von wenigen Monaten. Vielleicht ein Jahr. Oder maximal zwei. So ein Krieg musste ja schnell gewonnen sein. Immerhin stand doch Gott auf der Seite der Familie Habsburg.

A gmahde Wiesn. Wie hieß es damals so schön?: "Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos."

Und während man der restlichen Welt auf dem Schlachtfeld zeigte, wo der Bartl den Most holt, zivilisierte man auch gleich diese geflüchteten Hinterwäldler in den Lagern in den österreichischen Kernländern und schickte sie als neue Menschen in ihre ursprünglichen Wohngebiete zurück. Somit hatte jene Flüchtlingswelle sogar noch etwas Gutes. Dachte man.

 

Zynisch formuliert könnte man anmerken, dass bei der Planung des Lagers mehr Gedanken an den Bau und die künstlerisch hochwertige Ausgestaltung der Kirche als an die Abwasserentsorgung verschwendet wurden: Zwar errichtete man ein Jahr nach Inbetriebnahme des Gmünder Flüchtlingslagers eine biologische Kläranlage, doch wurde das Abwasser noch ein weiteres Jahr durch einfache Gräben aus dem Gelände abgeleitet. Die daraus resultierenden katastrophalen Hygienezustände waren dementsprechend wohl auch einer der Gründe dafür, dass das Lagerspital mit etwa 2 400 Betten größer war als das größte Krankenhaus des modernen Österreichs: Das Wiener AKH weist zirka 300 Spitalsbetten weniger auf.

Das Birkentor, der Eingang zum Friedhof des Lagers. Neben einem Erwachsenensarg sind auf dem Bild eindeutig auch zwei Kindersärge zu sehen. Quelle: Haus der Zeitgeschichte.
Das Birkentor, der Eingang zum Friedhof des Lagers. Neben einem Erwachsenensarg sind auf dem Bild eindeutig auch zwei Kindersärge zu sehen. Quelle: Haus der Zeitgeschichte.

So starben beispielsweise in den Jahren 1915, 1916 und 1917 im Gmünder Flüchtlingslager exakt 484 Säuglinge an Masern, gesamt gab es in dieser Zeit etwa 4 400 Opfer verschiedener Seuchen. Während seines Bestands starben ungefähr 30 000 Menschen im Lager, größtenteils an Krankheiten und an Unterernährung.

 

All diese Verstorbenen mussten natürlich auch bestattet werden. Deshalb legte man außerhalb des Barackenbereichs einen weitläufigen Friedhof an, auf dem diejenigen, deren Flucht in Gmünd endete, eine würdige Ruhestätte finden sollten.

Nur ein einziger Grabstein steht heute für die tausenden Toten, die in der Erde des Lagerfriedhofs ruhen.
Das schlichte Tor aus Birkenstämmen, das einst den Eingang zum Gottesacker markiert hat, ist verschwunden. Heute befindet sich dort eine mächtige Plastik, die eine Flüchtlingsfamilie darstellt. Geschaffen wurde sie im Jahr 1964, also erst ein halbes Jahrhundert nach Errichtung des Lagers. Besser spätes Gedenken als gar keines. Einige Schritte weiter stößt man auf einen gravierten Stein, der an die aus Istrien geflüchteten Menschen erinnert, welche im Gmünder Flüchtlingslager verstorben sind.


Trotz dieser Mahnmale mutet der ehemalige Lagerfriedhof nur mehr wie ein stiller, etwas vergessener Park weit draußen am Rande einer Kleinstadt an, nicht wie das, was er wirklich ist: ein gigantisches Massengrab von zivilen Kriegsopfern.

Nachdem ich still und durchaus nachdenklich geworden den Weg zwischen den Rasenflächen entlangspaziert bin, kehre ich zurück zu meinem Motorrad, das knapp hinter dem ehemaligen Lagertor geparkt ist.
Ich sehe die Gegend nun mit anderen Augen, entdecke hier wie da teilweise übertünchte Überbleibsel aus der Zeit des Flüchtlingslagers wie Gebäude oder Straßenzüge. 
Es gibt sie also noch. Wie zurückgelassen wirken sie als stumme und gleichzeitig beredsame Mahner an den Wahnsinn des Krieges.

An einen Wahnsinn, der noch lange nicht geheilt ist.